Was bringt das neue Sexualstrafrecht?

Das Sexualstrafrecht wird verschärft. Was verbessert sich damit für Opfer? Und welche Schwierigkeiten bleiben? Die Opfer- und Kinderanwältin Béatrice Müller ordnet ein.

Was war der Auslöser für die Revision des Sexualstrafrechts, die National- und Ständerat in der Sommersession verabschiedet haben?

Béatrice Müller: Im Zentrum der Kritik stand, dass im alten Strafrecht nur Personen weiblichen Geschlechts Opfer einer Vergewaltigung sein konnten und eine Nötigungshandlung notwendig war. Ein Täter musste eine Frau bedrohen, Gewalt anwenden, sie unter psychischen Druck setzen oder zum Widerstand unfähig machen. Lag diese Handlung nicht vor, so war der Tatbestand nicht erfüllt und die Täter konnten letztlich nur wegen sexueller Belästigung verurteilt werden. Mit der Istanbul-Konvention, die 2018 in Kraft trat, kam die Schweiz in Zugzwang. Denn das Abkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt verpflichtet die Vertragsparteien, jede sexuelle Handlung, die ohne gegenseitiges Einverständnis erfolgt, als Vergewaltigung zu bestrafen.

Einen massgebenden Anteil an der Diskussion hatte auch die Dissertation von Nora Scheidegger. Die Juristin zeigt darin Mängel des schweizerischen Sexualstrafrechts auf. So fehlt ein Auffang- und Grundtatbestand, der das schlichte Handeln ohne (faktische) Einwilligung des Opfers angemessen erfasst. Dies führt dazu, dass nicht-einvernehmliche Sexualkontakte nur dann als erhebliches Unrecht (und damit als Vergewaltigung) qualifiziert werden können, wenn über die fehlende Einwilligung hinaus zusätzliche Umstände vorliegen.

Welche Rolle spielte der gesellschaftliche Druck?

2019 kam Bewegung in die öffentliche Debatte. Daran waren verschiedene NGOs aktiv beteiligt, unter anderem Amnesty International Schweiz, die Dachorganisation Sexuelle Gesundheit, Alliance f und Juristinnen Schweiz, aber auch betroffene Berufsgruppen aus Justiz und Opferberatung und Politikerinnen und Politiker. Zwei Petitionen mit je fast 50‘000 Unterschriften, die eingereicht wurden, verliehen der Forderung nach einer Revision mehr Gewicht. Nun haben auch der Bundesrat und das Parlament den Reformbedarf erkannt und sich an die Arbeit gemacht. Zudem hat auf gesellschaftlicher Ebene die Debatte in breiten Kreisen stattgefunden, was langsam zu einem Umdenken geführt hat und noch immer führt.

Welches sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Änderungen des Sexualstrafrechts und worum geht es dabei genau?

Die grosse und wesentliche Änderung betrifft die neue «Nein heisst Nein»-Regelung. Damit gilt auch als Vergewaltigung, wer gegen den Willen des Opfers eine sexuelle Handlung vornimmt. Zudem wurde ein Freezing-Zusatz ergänzt. Somit liegt auch dann eine Ablehnung vor, wenn sich ein Opfer in einem Schockzustand befindet und die Ablehnung nicht zum Ausdruck bringen kann. Eine wichtige Neuerung ist darüber hinaus der neue Tatbestand des sexuellen Übergriffs. Dieser füllt die Lücke zwischen der sexuellen Belästigung und der Vergewaltigung. Zudem ist die Aufnahme eines Tatbestands der Rachepornographie ein wichtiger Schritt, um den Wandel des gesellschaftlichen Alltags im Strafrecht besser abzubilden. Damit sind Bilder und Videos mit sexuellen Inhalten gemeint, die ohne Einverständnis weitergegeben oder veröffentlicht werden.

Inwiefern wird der Opferschutz durch diese Änderungen gestärkt?

Das neue Sexualstrafrecht bringt meiner Ansicht nach keine klare Verbesserung im Opferschutz. Das Strafgesetz ist auch nicht als Schutzgesetz konzipiert. Vielmehr werden Rechtsgüter geschützt, hier die sexuelle Selbstbestimmung. Dass nun bereits ein Nein ausreicht, ist ein wichtiger Schritt. Auch die Aufnahme des Freezings ist für Opfer in einem Verfahren eine Erleichterung. Nach wie vor steht und fällt ein Verfahren jedoch mit den Aussagen des Opfers. Es muss also weiterhin die Belastung des Strafverfahrens und damit der Befragung auf sich nehmen, was rechtsstaatlich auch richtig ist.

Welche Wirkung hat die Revision darüber hinaus?

Was sich – hoffentlich – ändert, ist die gesellschaftliche Wahrnehmung und der Umgang mit der Sexualität. Das neue Sexualstrafrecht schützt die sexuelle Selbstbestimmung deutlich besser. In Zukunft reicht die Ablehnung des Opfers. Mit dem neuen Sexualstrafrecht wird deutlich gemacht, dass Sex nicht einfach ein verfügbares Gut ist, das nur bei Gegenwehr nicht zu haben ist. Die Revision der Strafprozessordnung, die am 1. Januar 2024 ebenfalls in Kraft tritt, bringt für die Opfer Verbesserungen im Strafverfahren im Bereich der unentgeltlichen Rechtspflege, der Informationsrechte und der Schutzmassnahmen für Kinder.

Wie wirkt sich dies auf Ihre Arbeit aus?

Das ist schwierig vorauszusagen. Ich gehe nicht davon aus, dass nun deutlich mehr Anzeigen erfolgen. Nach wie vor ist – wie schon erwähnt – das Verfahren für die Opfer schwierig. Ich rechne damit, dass vor allem in der ersten Zeit viel Aufklärungsarbeit geleistet werden muss, von uns allen. Wir müssen darauf hinweisen, dass die Aussagen der Opfer im Strafverfahren nach wie vor eine zentrale Bedeutung haben.

Welche Schwierigkeiten kann es bei der Umsetzung ab 2024 geben?

Schwierigkeiten in der Umsetzung sind kaum zu erwarten. Die Strafuntersuchungsbehörden müssen ihre Befragungen an die neuen Tatbestände anpassen. Sie müssen nun darlegen, dass die Täter das Nein des Opfers erkennen konnten oder zumindest hätten erkennen müssen. Genauso muss die Strafuntersuchung ergeben, dass die Täter den Freezing-Zustand erkannten und bewusst oder zumindest eventualvorsätzlich ausnutzten.

Im Kinder- und Jugendbereich wurde das Cybergrooming nicht unter Strafe gestellt. Die OHbB bedauert dies sehr. Wie beurteilen Sie das?

Auch ich bedaure das. Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum die Rechtskommission des Ständerats sich vor einer Ausweitung der Strafbarkeit fürchtet. Dies ist meiner Ansicht nach eine verpasste Chance.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf für weitere Revisionen?           

Die Revision hat dem Wandel der Gesellschaft gut Rechnung getragen. Nach wie vor würde ich die «Nur ja heisst Ja»-Lösung bevorzugen. Dies jedoch aus gesellschaftspolitischen Überlegungen und nicht aus strafrechtlicher Sicht. Es muss künftig selbstverständlich werden, ein Einverständnis vor sexuellen Handlungen einzuholen. Ich bin überzeugt, dass der Schritt weg von der Nötigungshandlung und hin zu fehlendem Einverständnis, in Ergänzung zum neuen Tatbestand des sexuellen Übergriffs, ein gutes Instrumentarium bildet. Letztlich kann und soll das Strafrecht nicht gesellschaftliche Probleme lösen. Nun ist es an der Gesellschaft, Werte zu ändern, Verhalten zu hinterfragen, alte Muster und Erwartungen aufzubrechen.

Weiterführende Informationen:

Nora Scheidegger: Das Sexualstrafrecht der Schweiz, Grundlagen und Reformbedarf. Stämpfli Verlag 2018.

Erst ja, dann ahh: Kampagne von Amnesty International gegen sexuelle Gewalt

https://www.amnesty.ch/de/themen/frauenrechte/

Überblick von Amnesty International über das Engagement für eine Revision des Sexualstrafrechts

https://www.amnesty.ch/de/kontakt/medien/