Es braucht Überwindung und Mut, damit Opfer von Gewalt die Hilfe in Anspruch nehmen, die ihnen zusteht. Die Opferhilfe beider Basel lanciert deshalb die neue Sensibilisierungskampagne «Gewalt kennt kein Geschlecht». Sie zeigt zwei Dinge auf: Alle können Opfer von Gewalt werden. Und niemand braucht sich dafür zu schämen. Die Kampagne spricht gezielt auch Männer an.
Scham zu verspüren, ist quälend. Das Gefühl wird ausgelöst durch den Eindruck, sich falsch verhalten zu haben, bestimmten Werten, Regeln oder Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein. Wer sich schämt, möchte unsichtbar sein, im Boden versinken. Es gibt Situationen, da kann Scham, sofern in einem begrenzten, gesunden Ausmass, helfen, das eigene Verhalten zu hinterfragen. Etwa nach einer heftigen verbalen Äusserung.
Existenzielle Angst
Doch es gibt auch ein Zuviel an Scham. Dies ist der Fall, wenn jemand von Schamgefühlen überflutet wird. Wer einen Fehler gemacht hat, meint dann, selbst ein Fehler zu sein. Dieser Zustand existenzieller Angst wird auch als traumatische Scham bezeichnet. Belastende Schamgefühle können dann zurückbleiben, wenn schützende (körperliche wie seelische) Grenzen verletzt wurden. Zum Beispiel, wenn Intimes aus dem Privatleben öffentlich wurde. Oder wenn Grenzen in drastischer Weise verletzt werden, etwa durch Vergewaltigung oder Folter.
Diese Form von Scham stellt eine Hürde dar: Wer sich schämt, Opfer geworden zu ein, wird kaum die Hilfe anfordern, die erforderlich ist. Hier setzt die neue Sensibilisierungskampagne der Opferhilfe beider Basel an. «Gewalt kennt kein Geschlecht» richtet sich an alle, die von Gewalt betroffen sind. Frauen, Männer, nonbinäre Menschen – alle können Opfer werden, alle können Scham ausgesetzt sein und alle können erfahren, wie die Scham bei den Betroffenen auch durch die gesellschaftliche Täter-Opfer Umkehr noch verstärkt wird.
Die Kampagne setzt drei Slogans ein:
• «Weil Man(n) sich nicht schämen muss»
• «Weil Man(n) verletzlich sein darf»
• «Weil Man(n) sich Hilfe holen kann»
Auch Männer dürfen verletzlich sein
Die Kampagne spricht gezielt auch Männer an. Auch sie sind verletzlich und haben Anspruch auf Hilfe. Sich dies einzugestehen, fällt bis heute vielen Männern schwer. Viele Straftaten werden nicht gemeldet, die Dunkelziffer ist entsprechend gross. Das zeigen auch die offiziellen Zahlen: In der Schweiz sind 75% der straffälligen Personen und 56% aller Betroffenen von Straftaten männlichen Geschlechts. Doch bei den Opferberatungsstellen machen männliche Hilfesuchende nur 30% der Fälle aus.
Das Opferhilfegesetz der Schweiz, vor über 30 Jahren eingeführt, ist ein wichtiges Instrument. Alle von Gewalt betroffenen Personen dürfen sich Hilfe holen und haben ein Recht darauf – Frauen, Männer, nonbinäre Menschen. Damit kann den Opfern die Würde zurückgegeben werden, die ihnen durch eine Straftat genommen wurde.
Kampagnenmaterial
Die Kampagne umfasst Plakate, kurze Animationen und Karten, bei denen die Betrachtenden selber in Aktion treten und die versteckten Sätze sichtbar machen können. Durch diese Handlung hat das Thema Gewalt einen Einfluss in die visuelle Erscheinung der Kampagne, ohne auf klassische Bildwelten zurückgreifen zu müssen, da diese oft nur eine spezifische Zielgruppe ansprechen und Gewalt auf eine sehr explizite Art und Weise dargestellt wird und dabei Gewaltformen ausschliesst, die nicht immer visuell fassbar sind. Ein QR-Code auf den Plakaten und Karten führt zu dieser Seite mit Beiträgen, Interview und Hintergrundartikeln rund um das Thema.
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Hier findest du Fachartikel, Interviews, Buchtipps und spannende FAQ’s zum Thema.
Das Männerbüro Region Basel berät Männer zu ihren Rollen und Aufgaben in ihrem Leben. Geschäftsleiter Florian Weissenbacher erklärt im Interview, welche Dienstleistungen im Fokus stehen, welche Herausforderung sich dabei stellen. Und warum das Angebot erweitert wird.
Beim Männerbüro haben Veränderungen stattgefunden. Wo steht das Männerbüro heute?
Anfang 2023 fand ein kompletter Personalwechsel statt. Ich übernahm die Leitung im Juni 2023. Wir mussten uns zuerst als Team finden und das Büro stabilisieren, was uns meines Erachtens gut gelungen ist. Wir stellen fest, dass wir mehr Prozessberatungen führen. Und wir sind dabei, das Angebot zu erweitern. Ein Beispiel ist die Männerberatung in einem Altersheim. Dort führen wir mit den Bewohnern Gruppengespräche zu bestimmten, vorbereiteten Themen und bieten anschliessend Beratungsgespräche zu einer Vielzahl an eigenen Themen an.
Welche Veränderungen gab es im Vorstand?
Wichtig war die Erweiterung des Vorstandes durch Markus Theunert, der sehr viel Erfahrung in der Männerarbeit mitbringt. Ein Fokus dabei ist sicher die Männerarbeit im Sinne der Gleichstellung. Das heisst, dass durch den feministischen Diskurs viele ungute, stellenweise dysfunktionale Verhaltensweisen, die viele Männer an den Tag legen, zur Sprache gebracht wurden. Diese wollen wir angehen.
Kannst du Beispiele nennen?
Das betrifft etwa das Verhalten von Männern in Paarbeziehungen. Chancengleichheit sollte hier zum Wohl beider gelebt werden. Weder muss sich die Frau um die Kinder kümmern, noch muss der Mann das Haupteinkommen generieren. Auffällig sind ebenfalls all die negativen Statistiken, in denen Männer an erster Stelle stehen. Zwar begehen Frauen häufiger Suizidversuche, aber Männer vollziehen den Suizid häufiger. Wir sterben früher, haben mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, verursachen mehr Autounfälle mit Todesfolgen, führen jede Kriminalstatistik an und werden im Kindesalter häufiger in schulischen Sondersettings und -massnahmen versorgt.
Wie kann das Männerbüro etwas daran ändern?
All das kann nicht einfach auf das Geschlecht zurückgeführt werden, sondern hat auch mit Sozialisierung zu tun. Wir wollen den Männern, die mit dem gesellschaftlichen oder dem persönlichen Status nicht mehr zufrieden sind, einen niederschwelligen Zugang und Unterstützung in ihren eigenen Veränderungsprozessen bieten.
Worin liegen allgemein Eure Aufgabenbereiche?
Dazu gehört die Beratung von Männern zu männerspezifischen Themen wie Work-Life-Balance, Vaterschaft, wechselnde Rollen- und Männlichkeitsbilder. Nach wie vor im Zentrum stehen Trennung und der persönliche Verkehr mit den eigenen Kindern nach Trennungen oder Scheidungen. Diese Themenbereiche sind jedoch gross. Wie erwähnt möchten wir uns öffnen. Für viele Männer ist die Hemmschwelle, ins Männerbüro zu kommen, nach wie vor zu gross. In Planung sind ein Vätermorgen, Infoabende und die Durchführung von Workshops.
Wie beurteilt Ihr die Diskussion bezüglich Männlichkeit und Stereotypen?
Der Diskurs wird politisiert, was ein zweischneidiges Schwert ist. Eine grosse Herausforderung ist dabei, dass die Gesellschaft wenig positive Beispiele über Männlichkeit erhält und diese öffentlich vorgelebt bekommt. Die negativen Beispiele nehmen sehr viel Raum in der Gestaltung des Bildes von Männlichkeit und Stereotypen ein. Männlichkeit wird zu oft mit toxisch in Verbindung gebracht. Die sozialen Medien spielen dabei eine wichtige Rolle. Orientierungslose junge Männer erhalten leider von Dominanz geprägten und toxischen Verhaltensweisen mehr Halt und Orientierung als von anderen Verhaltensweisen. Stereotype sitzen tief und es braucht viel Zeit und Bewegung, diese neu zu denken und zu leben. Die Scham spielt natürlich dabei eine zentrale Rolle.
Welche weiteren Hürden zeigen sich in der Arbeit?
Eine Herausforderung in der Diskussion über Maskulinität erlebe ich darin, dass sie oft wertend geführt wird. Es geht viel Energie verloren, wenn wir bereits zu Beginn lange erklären müssen, weshalb wir uns für Männer einsetzen und dass dies weder mit einer antifeministischen Haltung und noch automatisch mit Toxizität zu tun hat.
Was sind Eure Stärken?
In der Fach- und der Prozessberatung rund um den Kindesschutz und wenn dabei die KESB involviert ist, sind wir gut aufgestellt. Da sind viel Erfahrung und Wissen vorhanden. Ebenso in der Beratung in und nach verschiedenen Krisen, also wenn es um Stabilisierung geht. Zudem leben wir unterschiedliche Rollenbilder von Männlichkeit vor und helfen dabei, Bilder der Klienten zu reflektieren.
Wie definiert Ihr die Zusammenarbeit des Männerbüros mit der Opferhilfe beider Basel? Wo seht Ihr Schnittstellen?
Die Schnittstelle bietet natürlich euer Fachbereich, der Männer und Jungen im Fokus hat. Die Gemeinsamkeiten sind die Themen rund um Männlichkeit. Wobei mir wichtig ist zu erwähnen, dass wir Männer nicht isoliert denken dürfen. Sie sind Teil eines oder mehrerer Systeme, in denen sie sich täglich zurechtfinden müssen. Veränderungen bei einer Person kann zu Widerstand im System führen und damit zu mehr Problemen. Entsprechend muss die Lebenswelt des Klienten berücksichtigt werden.
Wo gibt es eine klare Abgrenzung zur OHbB?
Eine Abgrenzung bildet das Opferhilfegesetz. Für Opfer seid Ihr die Fachpersonen. Wir motivieren Betroffene von Gewalt, die Beratungsleistung der Opferhilfe in Anspruch zu nehmen. Wir erleben die Zusammenarbeit als konstruktiv und zielführend. Ich erlebe beide Institutionen als sehr klientenzentriert. Wo seht Ihr in der Zusammenarbeit Entwicklungspotenzial? Spannend wären sicher gemeinsame Infoabende zu männerspezifischen Themen. Da käme sehr viel Wissen zusammen, von welchem die Öffentlichkeit profitieren könnte.
Agota Lavoyer, Sim Eggler
Erscheint im September 2024
ISBN 978-3-03875-588-3
16 Frauen aus der Nordwestschweiz erheben ihre Stimmen gegen Gewalt an Frauen. Beat John, Geschäftsleiter der Opferhilfe beider Basel, erklärt im Interview, wie es gelang, Persönlichkeiten für das Projekt zu gewinnen. Und was es künftig braucht, um Frauen vor Gewalt zu schützen.
Hier geht es zu den 16 Filmbeiträgen: Link
Während der internationalen Kampagne «16 Aktionstage gegen Gewalt an Frauen» zeigt die Opferhilfe beider Basel Videobotschaften von 16 Frauen. Was haben uns die Frauen zu sagen?
Unglaublich viel. Es sind klare Voten, Anliegen, Wünsche, Appelle. Gespickt mit eigenen Erfahrungen, Geschichten. Und es ist zu spüren: Die Frauen wissen genau, wovon sie sprechen und für wen sie es tun.
Welche Aussagen haben Sie besonders berührt?
Ich war bei den Aufnahmen dabei. Und ich habe erlebt, wie wichtig es den Frauen ist, dass es allen Frauen gut geht. Da waren ein grosses, echtes Mitgefühl und eine Identifikation mit Frauen spürbar. Und ich habe auch realisiert, wie gut sich die Frauen vorstellen können, was Gewalt an Schmerz und Leid bei Menschen auslösen kann. Zum Teil wissen sie dies auch aus eigener Erfahrung. Diese Besuche bei den Frauen und die Gespräche waren etwas vom Berührendsten, was ich in meinen vielen Berufsjahren machen durfte.
Viele der Frauen, die teilnehmen, sind über die Nordwestschweiz hinaus bekannt, etwa die Starköchin Tanja Grandits, die
Profitennisspielerin Joanne Züger oder die Schauspielerin Sarah Spale. Wie wurden die Frauen ausgewählt?
Uns war wichtig, eine möglichst grosse Vielseitigkeit zu zeigen. Diese Vielseitigkeit haben wir zuerst ohne Namen aufgelistet, zum Beispiel eine Musikerin, eine junge und eine sehr lebenserfahrene Frau, eine Muslimin, eine Transfrau, eine Managerin. Und dann war ich sehr überrascht, wie schnell unsere Mitarbeiterinnen die Liste mit konkreten Vorschlägen ergänzten.
Wie haben die Frauen auf die Anfrage reagiert?
Die ersten drei Anfragen liefen ins Leere. Es kam keine Rückmeldung. Das hatte mich schon ein bisschen nachdenklich gemacht. Aber dann klappte eine Anfrage nach der andern. Das war für mich persönlich eines der Highlights der ganzen Aktion. Die angefragten Frauen haben so spontan zugesagt – ohne zu überlegen. Das hat mich extrem beeindruckt. Unisono haben sie gemeint, dass sie sich gerne für Frauen und für ein so wichtiges Thema engagieren möchten.
Welche Wirkung versprechen Sie sich von der Aktion?
Als Vater habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kinder die Ratschläge der Eltern nicht immer goutieren. Als Lehrperson gilt etwa das Gleiche für Tipps an Schülerinnen und Schüler. Aber innerhalb der Peer, auf Augenhöhe, von Frau zu Frau: Das ist etwas anderes. Menschen brauchen das, Empfehlungen, Wünsche, Ermutigungen, Aussagen zu persönlichen Anliegen. Das zeigt ja auch die Me-too-Bewegung. Ich bin überzeugt, die Botschaften und Aussagen der Frauen werden gehört. Und das ist ein wichtiger Beitrag zur Sensibilisierung und Prävention.
Was braucht es zusätzlich, um Frauen vor Gewalt zu schützen?
Das gleiche Engagement und Verständnis der Männer.
Miriam Suter, Natalia Widla
Erscheint am 10. Oktober 2024
In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Ehemann, Lebensgefährten oder Ex-Partner getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Warum werden Männer zu Tätern von häuslicher oder sexualisierter Gewalt an Frauen? Warum töten sie? Miriam Suter und Natalia Widla gehen dieser Frage nach im Hinblick darauf, was die Schweiz tut, um solche Verbrechen zu verhindern, und was noch getan werden muss. In Gesprächen mit verschiedenen Fachpersonen aus Justiz, Politik oder Psychologie und durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Fällen von verurteilten Gewalttätern versuchen sie zu ergründen, welche Männer sich hinter dem Begriff «Täter» verbergen, welche psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen Gewalt befördern und welche präventiven oder kurativen Massnahmen bestehen.
Zu den Gesprächspartner:innen gehören Markus Theunert vom Schweizer Männer- und Vaterverband, die forensische Diagnostikerin Nahlah Saimeh, die Soziologin und Aktivistin Melanie Brazzell, die Strafrechtsprofessorin Nora Markwalder, Bundesrat Beat Jans und viele weitere.
Lange war es ein Tabu, über sexualisierte oder häusliche Gewalt gegen Männern zu sprechen. Dass ein Mann Opfer davon werden konnte, war schlicht nicht vorstellbar. Betroffenen war es nicht möglich, über ihre Erfahrungen zu sprechen oder gar Unterstützung zu holen. Doch nun ist ein gesellschaftlicher Wandel zu beobachten.
Seit 2008 werden in der Opferhilfe beider Basel die männlichen Betroffenen von häuslicher und sexualisierter Gewalt durch spezialisierte Fachpersonen beraten. Die Opferhilfe will diese Betroffenengruppe gezielt ansprechen und signalisieren: Wir wissen, dass es Euch gibt, Ihr seid nicht allein, Ihr habt spezifische Bedürfnisse.
Sensibilisierung wirkt
Neben der Beratung der Betroffenen wurde und wird aber auch immer wieder auf eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit, der Behörden und involvierter Stellen hingearbeitet. Parallel dazu zeichnet sich in der Gesellschaft ein Wandel ab. Das Tabu bröckelt, Männer können Opfer werden und dürfen Hilfe holen. Diese Entwicklung lässt sich gut anhand von Zahlen nachzeichnen.
So hat sich die Anzahl der von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffenen Männer von 2008 bis 2023 auf 225 verdreifacht. Im Schnitt nimmt heute pro Tag ein Mann die Beratung bei der OHbB in Anspruch. Zwei Drittel betreffen häusliche Gewalt, ein Drittel sexualisierte Gewalt.
Jahr | 2008 | 2015 | 2023 |
Neue Beratungen | 79 | 121 | 225 |
Tab. 1: Beratungen der OHbB für männliche Opfer von häuslicher oder sexualisierter Gewalt
Gesellschaftliche Veränderung
Es stellt sich die Frage, ob es sich dabei um ein Phänomen der Beratungsstelle handelt oder ob sich ein gesellschaftlicher Wandel abzeichnet. Eine Antwort liefert die nationale polizeiliche Kriminalstatistik. Sie erfasst die Betroffenen von häuslicher oder sexualisierter Gewalt seit 2009 detailliert.
Über einen vergleichbaren Zeitraum zeigt sich bei der Erfassung von männlichen Opfern in Strafverfahren ein Zuwachs von 40%. Diese Zahlen geben allerdings keine Auskunft darüber, ob es mehr Straftaten gab oder ob die Betroffenen aufgrund einer Sensibilisierung vermehrt Anzeige erstatten. Der Anteil der Betroffenen von sexualisierter Gewalt liegt mit 15-25% tiefer als bei der Opferhilfe beider Basel.
Jahr | 2009 | 2015 | 2023 |
Häusliche Gewalt | 2318 | 2511 | 3435 |
Sexualisierte Gewalt | 565 | 551 | 620 |
Tab. 2: Männliche Opfer in Strafverfahren, nationale polizeiliche Kriminalstatistik
Die beiden Zahlenreihen legen nahe, dass ein gesellschaftlicher Wandel im Gang ist. Männer zeigen auch bei häuslicher und sexualisierter Gewalt die Delikte eher an. Und, was wichtig ist, sie holen sich schneller Hilfe. Dass die Zahl der Beratungen der Opferhilfe beider Basel viel stärker gewachsen ist als jene der Strafverfahren, macht etwas deutlich: Das Engagement der Beratungsstelle über die letzten 16 Jahre zeigt Wirkung.
Wie weit ist der Kanton Basel-Landschaft in der Umsetzung der Istanbul-Konvention gekommen?
Alexa Ferel: Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt sind eine uralte und immer noch tabuisierte Form von geschlechtsspezifischem Machtmissbrauch. Dass Gewalt gegen Frauen in der Paarbeziehung auch in der Schweiz ein gravierendes Problem ist, zeigte eine erste schweizweite Dunkelfeldstudie bereits Ende der 1990er-Jahre (Gillioz Lucienne et.al 1997). Häusliche Gewalt stoppen, Opfer schützen und Tatpersonen belangen, sind seither die Ziele der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt BL. Und unsere Arbeitsgruppe gegen Häusliche Gewalt, eine regierungsrätliche Kommission, sorgt seit über 20 Jahren als «Runder Tisch» für die so relevante Vernetzung. Auf kantonaler und nationaler Ebene traten in den letzten Jahren wichtige rechtliche Grundlagen zur Verbesserung des Opferschutzes in Kraft. Die Opferhilfe und das Frauenhaus der Basler Kantone waren und sind unverzichtbare Institutionen für Gewaltbetroffene. Und auch die Lernprogramme für gewaltausübende Personen gehören seit Jahren zwingend zum Opferschutz dazu.
Wir sind also nicht erst seit Inkrafttreten der Istanbul-Konvention (IK) daran, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu bekämpfen. Aber die IK ist ein hervorragendes zusätzliches Instrument, um die Prävention, den Opferschutz und die Strafverfolgung noch konsequenter und vernetzter voranzutreiben – eine Chance, die wir unbedingt nutzen wollen und müssen.
Welche konkreten Massnahmen wurden im Baselland bereits ergriffen?
Die Umsetzung der IK wurde ab dem Jahr 2019 mit einer ersten Bestandsaufnahme an die Hand genommen. Der Kanton Basel-Landschaft verfügt grundsätzlich über gute Interventionsstrukturen und Interventionsinstrumente zur Prävention von häuslicher Gewalt und zur Bekämpfung ihrer Folgen. In verschiedenen Punkten der IK zeigte sich aber auch Handlungsbedarf, weshalb eine direktionsübergreifende Projektgruppe eingesetzt wurde. Die Projektgruppe legte für die erste Phase Massnahmen in vier Schwerpunkten fest. Auf dieser Grundlage beschloss der Regierungsrat Basel-Landschaft 2020 die Umsetzung. Rund zwei Jahre später zeigt der Rechenschaftsbericht über die Umsetzung der Massnahmen, erste Phase, 2022: Die Schutzplätze für gewaltbetroffene Frauen und Kinder wurden erhöht, gemeinsam mit dem Kanton Basel-Stadt. Mit neuen Angeboten für gewaltausübende Fremdsprachige und für gewaltausübende Frauen wurde die Lücke in der Arbeit mit Tatpersonen bei Gewalt in der Paarbeziehung geschlossen. Zur Sensibilisierung für die Situation der betroffenen Kinder als Zeugen häuslicher Gewalt wurden wichtige Erkenntnisse gewonnen und Fachpersonen als Handreichung zur Verfügung gestellt. Zudem wurde die schulische Prävention zu Gleichstellung, gewaltfreier Konfliktlösung und geschlechtsspezifischer Gewalt intensiviert. Diese Schwerpunkte werden durch die zuständigen Projektmitglieder im Austausch mit dem Netzwerk als «work in progress» weiterentwickelt.
Für die nächste Phase zur Umsetzung der IK legen wir den Fokus jetzt auf die Roadmap Häusliche Gewalt. Darin vereinbarten Bund und Kantone Ende April 2021 in zehn Handlungsfeldern ganz konkrete Massnahmen zur nachhaltigen Verbesserung des Opferschutzes.
Welche Fortschritte sind bei der Umsetzung in der Schweiz erzielt worden?
Auf nationaler Ebene hat der Bundesrat im Juli 2022 den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention verabschiedet. Dank gebündelten und koordinierten Massnahmen sollen bis Mitte 2026 substantielle Fortschritte bei der Sensibilisierung der Bevölkerung und bei der Aus- und Weiterbildung zuständiger Bereiche erzielt werden. Ganz wichtig ist, dass der Aktionsplan ausserdem einen speziellen Fokus auf die Prävention und Bekämpfung von sexualisierter Gewalt legt.
Ein Ziel der Konvention ist die verbesserte Koordination und Vernetzung der betroffenen Stellen. Sind hier bereits Fortschritte erzielt worden?
Generell hat die IK bei allen betroffenen Stellen mit Sicherheit einen grossen Effekt. Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt sind viel stärker ins Bewusstsein der Gesellschaft gerückt und auch verstärkt auf der politischen Agenda. Diese Gewichtung unterstützt unsere Vernetzungsarbeit. Während der Covid-19-Pandemie zeigte sich, wie wichtig funktionierende Vernetzungsgremien sind: Während der Krisenzeit konnten wir mit unserer «Corona-Gruppe» zwischen den Schlüsselstellen im Opferschutz rasch und unkompliziert regelmässige Online-Besprechungen durchführen. Dadurch waren Austausch und Vernetzung sichergestellt. Das ist ein Beispiel gelebter Vernetzung, die den Gewaltbetroffenen direkt zugutekommt.
Weshalb ist Vernetzung so wichtig?
Auf der operativen Ebene ist sowohl die Arbeit mit Tatpersonen als auch mit Gewaltbetroffenen ohne Vernetzung undenkbar – natürlich immer im Einverständnis mit den Betroffenen beziehungsweise im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen. Insbesondere im Schutzmanagement, das wir im Auftrag des kantonalen Bedrohungsmanagements bei Gewalt in Paarbeziehungen übernehmen, ist die Vernetzung essenziell: mit den Schutzunterkünften, mit der Opferhilfe und auch mit anderen involvierten Stellen.
Wo besteht noch grösster Handlungsbedarf? Welche Hürden gilt es zu überwinden?
Deutliche Hinweise zum Handlungsbedarf sind in den Vorschlägen des internationalen Expertinnen- und Expertengremiums des Europarats (GREVIO) zu finden. Dieses hat die Umsetzung der IK in der Schweiz letztes Jahr geprüft und Empfehlungen an die Schweiz gerichtet. Der Bundesrat publizierte im November 2022 dazu einen Kommentar. Der Schweiz ist u.a. gefordert, geschlechtsspezifische Gewalt besser zu erkennen, zu benennen und Massnahmen davon abzuleiten.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir wissen, dass versuchte oder vollendete Femizide im Kontext häuslicher Gewalt fast immer in Trennungsphasen oder im Zusammenhang mit einem Trennungswunsch der Partnerin passieren. Als Tatmotiv wird oft heftige Eifersucht genannt. Solche bagatellisierenden Begründungen müssen wir hinterfragen. Denn hier geht es um einen verheerenden Besitzanspruch, um destruktive Kontrolle und um die Unterdrückung, im schlimmsten Fall um die Tötung einer Partnerin, allein weil diese sich trennen wollte. Strukturell müssen wir uns also für noch mehr Gleichstellung einsetzen, indem wir zum Beispiel gewaltfördernden Rollenverständnissen entgegenwirken. Operativ müssen wir häusliche Gewalt – auch psychische Formen – vor, während und auch nach einer Trennung wirklich immer gewichten und Schutzmassnahmen zur Verfügung stellen. Das kantonale Bedrohungsmanagement kann in solchen Fällen einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären und interinstitutionellen Vernetzung und Zusammenarbeit leisten.
Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten für Verbesserungen?
Handlungsbedarf im Sinne von Weiterentwicklung besteht auf allen Ebenen, und sehr viele Massnahmen sind in den strategischen Plänen von Bund und Kantonen auch bereits zu finden. Die Umsetzung von Massnahmen liegt in der Regel in der Kompetenz der Kantone. Damit sich der Föderalismus nicht als unüberwindbare Hürde erweist, ist eine gute interkantonale Kooperation gefragt – Vernetzung also nicht nur innerhalb der Kantone, sondern auch unter den Kantonen.
Ist Gewalt denn nicht ein Problem von Männern?
Die schweizerische polizeiliche Kriminalstatistik hat im Jahr 2023 insgesamt 90‘582 beschuldigte Personen (nach StGB) verzeichnet. Davon sind 75% männlichen Geschlechts. Bei häuslicher Gewalt sind ebenfalls 75% der Beschuldigten männlich. Bei Sexualdelikten sogar über 95%. Es sind klare Zahlen, welche vorliegende gesellschaftliche patriarchale Strukturen zum
Ausdruck bringen.
Gleichzeitig stossen männliche Betroffene von Gewalt in der Gesellschaft auf Unverständnis oder Ablehnung. Viele betroffene Männer werden dadurch in ihrer Gewalterfahrung nicht ernst genommen und erhalten nur ungenügend Unterstützung. Als Ausdruck einer traditionellen männlichen Sozialisation holen sich zudem nur wenige Männer Hilfe, da sie ihre Gewaltbetroffenheit tabuisieren und eine gesellschaftliche Stigmatisierung fürchten.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik Schweiz 2023
Können Männer Opfer von häuslicher Gewalt werden?
Die schweizerische polizeiliche Kriminalstatistik hat für das Jahr 2023 insgesamt 11‘479 Betroffene von häuslicher Gewalt verzeichnet. Davon sind knapp 30% männlichen Geschlechts. Man muss an dieser Stelle jedoch bedenken, dass dies lediglich die polizeilich bekannten Fälle von häuslicher Gewalt darstellt. Die Dunkelziffer ist hoch – sowohl bei weiblichen, wie auch bei männlichen Betroffenen. Eine repräsentative Dunkelfeldstudie des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2023 brachte hervor, dass 54% der befragten Männer angaben, in einer Partnerschaft Opfer von häuslicher Gewalt geworden zu sein. Dabei brachten die meisten Betroffenen erlittene psychische Gewalt zum Ausdruck. Wiederum gaben 73% der Betroffenen jedoch an, dass sie selber auch gegenüber Ihrem*r Partner*in Gewalt angewendet hätten, was auf gegenseitige häusliche Gewalt als Ausdruck eines spontanen Konfliktverhaltens schliessen lässt.
Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik Schweiz 2023; Gewalt gegen Männer in Partnerschaften – von der Scham zur Hilfe , Studie des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und Stiftung WEISSER Ring 2022/2023.
Können Männer vergewaltigt werden?
Bis zur Revision des Sexualstrafrechts, welches am 1. Juli 2024 in Kraft trat, konnten Männer per gesetzlicher Definition nicht vergewaltigt werden. Die Strafverfahren bei betroffenen Männern wurden wegen sexueller Nötigung geführt. Neu sind die orale, anale und vaginale Penetration gleichgestellt.
Quelle: Art. 190 Strafgesetzbuch
Wie viele Männer werden Opfer eines Sexualdelikts?
Die schweizerische polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnete für das Jahr 2023 insgesamt 4‘223 geschädigte Personen. Davon machten knapp 15% männliche Betroffene aus. Der grösste Teil davon betraf männliche Minderjährige. Da dies nur die polizeilich registrierten Fälle abbildet, muss auch hier von einer grossen Dunkelziffer ausgegangen werden.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik Schweiz 2023
Wieso wehren sich Männer nicht einfach, wenn ihnen Gewalt angetan wird?
Unabhängig ihres Geschlechts erleben viele Gewaltbetroffene während eines Gewaltvorfalls einen Starre-Zustand, welcher auch als «Freezing» bezeichnet wird. Dies ist eine normale menschliche Reaktion des Körpers auf ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis. Durch das Unterdrücken von Abwehrreaktionen kann das Risiko von Verletzungen bei Gewalthandlungen, wie z.B einer Vergewaltigung, verringert und dadurch das Überleben der betroffenen Person gesichert werden. Jede Person kann ein «Freezing» erleben. Es handelt sich um eine instinktive Reaktion, welche unabhängig vom Willen und Wissen einer Person entsteht. Viele Menschen wissen nicht, dass es sich beim «Freezing» um eine normale Reaktion des Körpers handelt und machen den betroffenen Personen Vorwürfe, wieso sie sich nicht gewehrt hätten. Dies führt bei Betroffenen zu massiven Selbstvorwürfen und ist Ausdruck einer schädlichen Täter-Opfer Umkehr. Bis zur Revision des Sexualstrafrechts, welches am 1. Juli 2024 in Kraft trat, musste die betroffene Person vor Gericht nachweisen, dass sie erkennbar Widerstand geleistet hat. Neu wird auch das «Freezing» als Widerstand gedeutet. Wer den Schockzustand einer Person ausnützt, verstösst damit auch gegen ihren Willen.
Quelle: Interview mit Jan Gysi, erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Dezember 2020
Ein typischer Fall, der in der Frauenberatung bei Gewalt wie auch in der Männerberatung bei Gewalt vorkommt. Egal, welches Geschlecht sich die lesende Person für A oder Z vorstellt: es trifft zu!
A ist 27-jährig und aktuell in der Ausbildung zur Pflegefachperson in einem Spital. Diese Ausbildung gefällt A sehr.
A interessiert sich sehr für medizinische Themen, der Austausch mit Z, 25-jährige assistenzärztliche Fachperson des Spitals, findet A deswegen sehr spannend. Durch diese Gespräche – anfänglich lediglich während den Kaffeepausen im Spital – zeigen sich ihre zahlreichen gemeinsamen Interessen. Sie beginnen, sich auch in der Freizeit zu treffen. A macht Z gegenüber von Anfang an klar, dass A im Moment keine feste Beziehung eingehen möchte – auch keine sexuelle.
A trifft sich weiterhin mit Z, sie haben eine gute Zeit miteinander. Bei einem weiteren Treffen kommt Z A aber körperlich zu nahe. A wiederholt das Bedürfnis, dass A keine körperliche oder sexuelle Nähe möchte und dass es A unwohl sei, wenn Z so nah auf A zukomme. Bei einem weiteren Treffen bei Z daheim fängt Z an zu kuscheln und A auszuziehen. A verfällt in Schockstarre, während Z A vergewaltigt. Ohne Verhütung.
Als A wieder zu sich kommt, verlässt A wortlos die Wohnung von Z. Der Gedanke, am nächsten Tag bei der Arbeit zu erscheinen und somit möglicherweise Z zu begegnen, ist für A unerträglich. Noch auf dem Weg nach Hause ruft A eine wichtige Vertrauensperson an. Diese rät A, sich bei der Opferhilfe für ein Beratungsgespräch zu melden.
Zahlreiche Fragen stellen sich A:
• Ist A eine Frau: Wie sieht es mit der Schwangerschaftsverhütung aus? Welche Möglichkeiten gibt es nachträglich?
Unabhängig vom Geschlecht:
• Wie sieht es mit der Gesundheit / Verletzungen für A aus?
• Wie sieht es mit der forensischen Beweissicherung aus?
• Kann diese Beweissicherung auch gemacht werden, wenn A keine Strafanzeige machen möchte?
• Wie sieht es mit Behandlungen bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten (HIV, Hepatitis, ….) aus?
• Wie schafft A es, den Übergriff der Unfallversicherung zu melden, damit diese die vollen Kosten übernimmt?
• Möchte A Z bei der Polizei anzeigen, was spricht dafür, was dagegen? Wo (Tatort, Wohnort)?
• Kann A eine Vertrauensperson bei der Strafanzeige mitnehmen und wen?
• Verfügt A über ausreichend psychische Ressourcen (Kraft, Energie) für ein Strafverfahren, das erfahrungsgemäss sehr lange dauert?
• Ist A bereit, in einem Strafverfahren intimste Fragen, auch zur Intimsphäre, zu beantworten?
• Glauben die Strafverfolgungsbehörden den Aussagen A oder eher den Aussagen von Z?
• Was löst es in A aus, wenn Z A der Falschanschuldigung bezichtigt oder A vorwirft, „es“ doch gewollt zu haben?
• Wie geht A mit einem allfälligen Freispruch in-dubio-pro-reo um, sollte es zu einer Strafanklage vor Gericht kommen?
• A hat zudem die grosse Sorge, dass die Ausbildung im Spital eventuell nicht mehr weitergeführt werden kann, da A dort Z beinahe täglich begegnet. Muss A sich deshalb vorübergehend krankschreiben lassen?
• Kann A der Hausärztin gegenüber offen kommunizieren, was A erlebt hat.
• Was erzählt A den Arbeitskolleg*innen, weshalb A allenfalls mehrere Tage krankgeschrieben ist?
• Soll sich A der Ausbildungsverantwortlichen anvertrauen?
• Wird diese die Spitalleitung informieren und muss diese eine Strafanzeige erstatten oder Z sofort freistellen? Kann A als
gewaltbetroffene Person noch mitentscheiden oder wird über den Kopf hinweg entschieden?
• A hat sich bis anhin keinen weiteren Bekannten anvertraut, aus Sorge, dass sie A nicht glauben oder die Sache bagatellisieren. Und aus Scham, dass A „so etwas“ passiert ist. Wie schafft es A, diese übergrosse Scham und Sorge zu überwinden?
• Braucht A dafür psychotherapeutische Unterstützung?
• …
Anmerkung: Neu gilt der Begriff der Vergewaltigung auch bei Männern. Orale, anale und vaginale Penetration sind gleichgestellt. (Revision Sexualstrafrecht, eingeführt 01.07.2024)
Miriam Suter, Natalia Widla
«Jede fünfte Frau in der Schweiz ist von sexualisierter Gewalt betroffen, aber nur acht Prozent der Fälle werden zur Anzeige gebracht. Während das Sexualstrafrecht in der Schweiz eine Reform durchläuft, nehmen die beiden Journalistinnen die Praxis unserer Justiz, Polizei und Beratungsstellen unter die Lupe. Ausgehend von den Geschichten dreier Frauen, deren Erfahrungen stellvertretend für viele andere stehen, werden Abläufe und Ansprechpersonen dargestellt, die Betroffenen ebenso zum Verhängnis wie zur Hilfe werden können.
Interviews mit Corina Elmer, Tamara Funiciello, Marcus Kradolfer, Agota Lavoyer, Karin Keller-Sutter und Bettina Steinbach erläutern für die Debatte wichtige Konzepte und Hintergründe.»
Unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität melden sich viele Gewaltbetroffene aus Scham und Angst selten und nur mit viel Überwindung bei einer Opferberatungsstelle und nehmen Hilfe in Anspruch. In der Beratung mit männlichen Gewaltbetroffenen begegnen uns jedoch oft Aussagen, die einen Rollenkonflikt zeigen. Sie fragen, «kann ich überhaupt ein Opfer werden, Schwäche und Verletzlichkeit zeigen, wenn ich als Mann doch stark und unabhängig sein muss?». Wieso es lohnenswert ist, wenn Männer ihr Selbstverständnis von Männlichkeit kritisch hinterfragen. Und weshalb es auch eine gesellschaftliche Aufgabe ist, Männer dabei zu unterstützen.
Es war ein lockeres Gespräch beim Kaffee mit einer befreundeten Lehrerin. Diese teilt mir beiläufig mit, dass sie bei der Pausenaufsicht die prügelnden Buben auf dem Schulhof zum wiederholten Mal gemahnt habe, dies jedoch nichts brachte. «Vielleicht müssen die sich mal auf die Kappe geben, damit es aufhört. So sind Buben vielleicht eben». Diese Aussage beschäftigte mich in den folgenden Tagen. Es scheint, als hätte sich die Gesellschaft damit abgefunden, dass Gewalt zum Mannsein dazugehört.
Dabei ist seit paar Jahren zu beobachten, wie sich auch andere Arten von Männlichkeiten etablieren. Männer arbeiten häufiger Teilzeit. 2023 waren es in der Schweiz 19,6% der erwerbstätigen Männer, 1991 waren es erst 7,8% gewesen. Immer mehr Männer entscheiden sich für Arbeitsmodelle, die im Einklang mit Kinderbetreuung und Familie stehen. Dadurch entstehen nicht nur neue Männlichkeitsvorstellungen, sondern es wird auch ein Beitrag zur Gleichstellung geleistet. Die Diversifizierung von Männlichkeiten zeigt sich auch bei Männern, die männeruntypische Berufe ergreifen. Gerade für Buben können sie eine Vorbildfunktion übernehmen.
Toxische Männlichkeit
Dieser Wandel zu mehr Vielfalt ändert allerdings nichts daran, dass sich das traditionelle Männerbild hält und sogar an Bedeutung gewinnt. Es gibt viele Gründe, weshalb es zu diesem Rückschritt kommt. Viele Männer sehen ihre Privilegien durch den gesellschaftlichen Wandel bedroht. Einige politische Gruppierungen schüren diese Ängste, indem sie Menschen (z.B. LGBTQI*-Personen) zu Feindbildern stilisieren und erklären, traditionelle Rollenbilder und -verteilung zu verteidigen. Eine Rolle spielen dabei Personen wie der kanadische Psychologe Jordan Peterson, der mit öffentlichkeitswirksamen Botschaften zu toxischer Männlichkeit ein grosses Publikum erreicht.
Nach dieser Logik muss ein Mann stark, kräftig und hart sein. Wer Schwäche oder andere unmännliche Gefühle zeigt, ist kein Mann. Zu diesem Stereotyp gehört auch Gewalt. Sie dient dazu, die eigene Position zu festigen und Interessen durchzusetzen. Wird Gewalt in gewissen Teilen der Gesellschaft weiterhin als unveränderbare Eigenschaft des Mannes betrachtet, die nötigenfalls ausgelebt wird, erstaunt es nicht, wenn es zu mehr Gewalttaten kommt.
Männer suchen seltener Hilfe
In der Schweiz sind 75% der straffälligen Personen und 56% aller Betroffenen von Straftaten männlichen Geschlechts. Gleichzeitig machen männliche Hilfesuchende bei Opferberatungsstellen nur 30% der Fälle aus. Diese Diskrepanz wirft Fragen auf und zeigt, wie wichtig es ist, Männer als Opfer ernst zu nehmen. Wobei das nicht heisst, dass die Gewalterfahrung von Frauen relativiert wird. Jede Form von Gewalt ist abzulehnen. Und es ist nach den Ursachen zu suchen, um dagegen vorgehen zu können.
Wer den unrealistischen Ansprüchen dieser Männlichkeit nicht genügen kann, spürt häufig Ohnmacht und Frustration. Dies kann zu Gewalt gegen andere führen oder auch gegen sich selbst. Problematisch an dieser Form von Männlichkeit ist zudem, dass sie keine Strategien bietet, mit Gefühlen wie Verletzlichkeit, Überforderung oder Angst umzugehen. Und dies kann zu Gewalt gegen andere führen. Oder auch gegen sich selbst.
Der Gang zu einer Opferberatungsstelle stellt für viele Männer einen Bruch mit den eigenen strikten Rollenvorstellungen dar. So beobachten wir in den Beratungen, dass Männer mit ihrer Gewalterfahrung hadern. Was sie in dieser Situation brauchen, ist Unterstützung. So können sie festgefahrene Vorstellungen wie Stärke und Autonomie umdeuten und es als Zeichen der Stärke erfahren, wenn sie Hilfe annehmen.
Es braucht geschützte Räume
Damit dies gelingt, braucht es zuerst passende Hilfsangebote. Doch leider existieren bis heute praktisch keine geschützten Räume, in welchen Männern die Erwartungen an ihre Rolle kritisch hinterfragen können. Eine Ausnahme bildet das Männerbüro Region Basel. Und die Opferhilfe beider Basel: Hier werden männliche Betroffene von häuslicher und sexualisierter Gewalt seit 2008 in einem eigens dafür geschaffenen Fachbereich beraten. In einem vertraulichen, kostenlosen Gespräch werden individuelle Bedürfnisse und Anliegen herausgearbeitet und gezielte Unterstützung angeboten.
Bereits ein einmaliges Gespräch kann entlastend sein. Viele Männer erkennen nach einer Beratung auch die Notwendigkeit psychotherapeutischer Unterstützung und wünschen Therapieempfehlungen. Oder sie fragen nach der Vermittlung juristischer Hilfe, da sich komplexe rechtliche Fragen zeigen. Es sind Männer, die sich aus ihrer Opferrolle und ihrer Ohnmacht befreien und wieder handlungsfähig werden wollen.
Unterstützung annehmen
Wie gross die Notlage von Männern ist, sich seine Hilflosigkeit einzugestehen und Unterstützung von aussen anzunehmen, erleben wir in der Beratung immer wieder. Um aus einer schwierigen Situation herauszukommen, sprechen viele Männer von Suizid. Dass dies nicht leere Worte sind, zeigt leider die unverhältnismässig hohe Rate an vollendeten Suiziden bei Männern.
Auch in der Gesellschaft herrschen problematische Rollenvorstellungen und Stereotype vor, die gewaltbetroffenen Männer den Zugang zu Hilfsangeboten erschweren. Konkret werden viele Gewalterfahrungen bagatellisiert oder nicht ernst genommen. Es wäre wünschenswert, wenn auch Fachpersonen, die mit gewaltbetroffenen Menschen zu tun haben, teils unbewusste Vorstellungen von Männlichkeit kritisch hinterfragen, damit gewaltbetroffene Männer die notwendige Unterstützung erhalten können.
Es muss auch eine gesellschaftliche Aufgabe sein, Buben und Männer zu befähigen, bei eigener Gewaltbetroffenheit Hilfe von Fachpersonen annehmen zu können. Stereotype, wonach Männer belastende Situationen allein bewältigen müssen, dürfen nicht reproduziert werden. Dafür muss die Hilfe jedoch auch vorhanden sein. Viele betroffene Männer stossen bei ihren ersten Versuchen leider auf negative und ablehnende Reaktionen, was die weitere Suche nach Unterstützung massgeblich erschwert.
Fazit
Geschlechterrollen sind nicht in Stein gemeisselt. Ermutigen wir Männer dazu, damit sie das anerzogene Rollenverständnis hinterfragen und ablegen. Damit sie selbstbestimmt andere Männlichkeiten entwickeln und ausprobieren können. Verurteilen wir Gewalt – auf den Schulhöfen wie auch an anderen Orten und Bereichen des täglichen Lebens. Geben wir den folgenschweren Irrglauben auf, dass Gewalt ein fester Bestandteil männlicher Sozialisation sein muss. Und schenken wir den gewaltbetroffenen Männern unser Gehör und Vertrauen. Wer es trotz Tabu und Stigma schafft, über Gewalterfahrung zu sprechen, tut einen sehr wichtigen Schritt. Sie verdienen unsere Unterstützung und dürfen in der Bewältigung der Gewalterfahrung und im Umgang mit Rollenkonflikten nicht allein bleiben.
Quellen:
Teilzeitarbeit – Anteil Teilzeiterwerbstätige, Bundesamt für Statistik
Polizeiliche Kriminalstatistik 2023, Bundesamt für Statistik
Opferhilfestatistik 2022, Bundesamt für Statistik
Spezifische Todesursachen, 2022, Bundesamt für Statistik
Agota Lavoyer
«Sexualisierte Gewalt ist in unserer Gesellschaft auf erschreckende Weise allgegenwärtig. So gut wie jede Frau ist davon betroffen. Die medienbekannte Expertin für sexualisierte Gewalt und Bestsellerautorin Agota Lavoyer erklärt in diesem aufwühlenden Buch, dass nicht nur das Ausmass sexualisierter Gewalt in unserer Gesellschaft ein Skandal ist, sondern auch unser Umgang damit. Wir leben in einer Rape Culture, die es Männern erlaubt, übergriffig zu sein, und die Betroffene abwertet und beschuldigt. Frauen besuchen Selbstverteidigungskurse, während wir Männer mit dem Argument «boys will be boys» entschuldigen und die Ursachen des Problems ignorieren: die weit verbreiteten sexistischen und frauenabwertenden Überzeuungen und unsere Vorstellungen von Männlichkeit.
Mit scharfem Blick zerpflückt Lavoyer unseren Umgang mit sexualisierter Gewalt. Sie kombiniert Statistiken und Forschungsergebnisse mit zahlreichen Beispielen aus der Populärkultur, der Strafverfolgung und der Medienberichterstattung, räumt mit gängigen Mythen auf und zeigt, dass sexualisierte Gewalt kein Ausrutscher oder Missverständnis ist, sondern Teil des toxischen Konstrukts patriarchaler Männlichkeit, das unsere Gesellschaft immer noch prägt.
Dieses Buch ist ein längst fälliger Aufschrei und ein Augenöffner, aber auch ein Aufruf an uns alle. Die Verhältnisse lassen sich ändern, wenn die Gesellschaft daran arbeitet, Sexismus und Frauenfeindlichkeit zu überwinden.».
Wie viele Frauen werden Opfer von häuslicher Gewalt?
Laut der schweizerischen polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahr 2023 11‘479 geschädigte Personen von häuslicher Gewalt verzeichnet. Davon waren 70% weibliche Personen. Bei diesen Zahlen handelt es sich um die polizeilich registrierten Fälle. Man muss an dieser Stelle jedoch von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, welche nicht statistisch erfasst werden kann. Die Opferhilfestatistik verzeichnet für das Jahr 2023 insgesamt 36‘029 weibliche Opfer, welche bei einer Opferberatungsstelle eine Beratung in Anspruch genommen haben. Bei über 54% aller Opfer war die tatausübende Person im häuslichen Kontext zu verorten (also in einer bestehenden oder aufgelösten partnerschaftlichen Beziehung oder ein anderes Familienmitglied).
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik, Opferhilfestatistik
Wie viele Frauen werden Opfer von sexualisierter Gewalt?
Laut der schweizerischen polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahr 2023 2‘384 weibliche erwachsene Personen und 1‘442 weibliche minderjährige Personen durch sexualisierte Gewalt geschädigt. Dabei handelt es sich um polizeilich registrierte Fälle. Auch hier gibt es eine sehr grosse Dunkelziffer. Auffallend ist, dass 44% der verzeichneten Vergewaltigungen, sowie über ein Drittel der sexuellen Nötigungen und sexuellen Handlungen mit Kindern im häuslichen Kontext, also im Rahmen einer bestehenden oder ehemaligen Partnerschaft oder einer anderen Familienbeziehung begangen wurden. Die Opferhilfestatistik hat für das 2023 insgesamt über 15‘000 Opfer von sexualisierter Gewalt verzeichnet, welche eine Beratung bei einer Opferberatungsstelle in Anspruch genommen haben.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik, Opferhilfestatistik
BRAVA (ehemals TERRE DES FEMMES) schreibt dazu:
«Die Schweiz hat ein Problem mit Sexualisierter Gewalt. Dies zeigt die heute veröffentlichte Kriminalstatistik (PKS). Im Jahr 2023 wurden laut Polizei 1’371 Frauen vergewaltigt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Enorme Dunkelziffern und geringe Verurteilungsraten entlarven ein System, das Sexualisierte Gewalt begünstigt und «Gerechtigkeit» verunmöglicht. Kämen alle Frauen an einem Ort zusammen, die laut Polizei 2023 in der Schweiz vergewaltigt wurden, würden sie ein ganzes Dorf bevölkern, zum Beispiel Läufelfingen.
Doch die Wahrheit ist viel gravierender. Wird heute eine Frau in der Schweiz vergewaltigt, erstattet sie höchstwahrscheinlich keine Anzeige. Laut einer Erhebung von 2022 melden sich acht von zehn Frauen nicht bei der Polizei. Das heisst, wir müssen nicht von 1’371 Betroffenen sprechen, sondern von rund 11’100. Statt von einem Dorf wie Läufelfingen, also von einer Kleinstadt in der Grösse von Lenzburg. Unsere Hochrechnung zeigt auf, was die Zahlen der PKS nicht erzählen: In der Schweiz werden täglich 30 Frauen Opfer massiver Sexualisierter Gewalt. Unsere Strukturen führen dazu, dass Betroffene Vergewaltigungen nicht anzeigen und Sexualstraftaten nur selten verurteilt werden.»
Quelle: www.brava-ngo.ch/de/aktuell/kriminalstatistik
Wieso zeigen weibliche Opfer von sexualisierter Gewalt die beschuldigte Person nicht einfach an?
Sexualisierte Gewalt wird in vielen Fällen im eigenen sozialen Umfeld begangen. Die Betroffenen kennen die beschuldigte Person in vielen Fällen und sind ihnen in der Regel vertraut. Betroffene Frauen verzichten dadurch aus Angst und Scham auf eine Anzeige, da sie der beschuldigten Person nahestehen.
BRAVA (ehemals TERRE DES FEMMES) schreibt dazu :
«Viele Betroffene sehen aus Scham, Schuldgefühlen oder aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird von einer Anzeige ab. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die meisten Tatpersonen aus dem nahen Umfeld der Geschädigten stammen. Laut einer Erhebung von 2022 kannten nur 8.4 Prozent die Tatperson nicht. Bei 38.6 Prozent war es der_die Partner_in oder Ex-Partner_in. So sind sich Betroffene oft unsicher, ob sie überhaupt Anzeige erstatten können. Dass es sich bei Sexualisierter Gewalt um einen massiven, gewaltvollen Eingriff in die Intimsphäre eines Menschen handelt, trägt weiter zur geringen Anzeigerate bei. Vielen Betroffenen fällt es schwer, über das Erlebte zu sprechen. In der Gleichung zwischen Selbstschutz und Recht überwiegt die Angst vor einer Retraumatisierung. Auch das Wissen darum, dass nur die wenigsten Vergewaltiger auch tatsächlich verurteilt werden, trägt zur geringen Anzeigerate bei.
Hat sich eine Betroffene Person zu einer Anzeige durchgerungen, bedeutet das noch lange nicht, dass es zu einer Verurteilung kommt.
Nach einer Anzeige kommt es nicht zwingend auch zu einer Verhandlung. Es kann sein, dass die Staatsanwaltschaft bei geringer Beweislast Betroffenen von einem Strafprozess abrät, oder sich Geschädigte selbst zurückziehen, da sie die Energie und die finanziellen Ressourcen für einen Prozess nicht aufbringen können.
Kommt es zum Prozess, mangelt es bei Sexualdelikten oft an Beweisen. Vielerorts wird eine professionelle Spurensicherung nur gemacht, wenn die geschädigte Person Anzeige erstattet. Entscheidet sich die Betroffene erst später für eine Anzeige, wurden wichtige Beweise nicht gesichert und sie können für das Verfahren nicht beigezogen werden. Fehlen die Beweise, steht oft Aussage gegen Aussage und das Gericht entscheidet «in dubio pro reo» also im Zweifel für den Angeklagten.»
Quelle: www.brava-ngo.ch/de/aktuell/kriminalstatistik
Was versteht man unter einer «Täter-Opfer-Umkehr»?
Betroffene von sexualisierter Gewalt werden oft mit Vorwürfen konfrontiert, dass sie z.B durch ihre Kleidung oder ihr Verhalten die Tat zu verantworten oder zumindest eine Mitschuld tragen würden. Viele Betroffene werden auch mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert, dass sie einem bestimmten «Opferbild» entsprechen müssten, dass sie also sofort nach der Tat über das Erlittene sprechen müssten und nur dann glaubwürdig seien. Dies ist falsch und für Betroffene Personen äusserst schädlich. Die Verantwortung für die Gewalt liegt immer bei den tatausübenden Personen und solche Vorurteile führen dazu, dass viele betroffene Menschen die Delikte nicht anzeigen oder nicht darüber sprechen.
Wieso melden sich viele Betroffene von sexualisierter Gewalt erst Jahre nach der Tat?
Vor allem während der Me-Too Bewegung gelangen viele weibliche (und auch männliche) Betroffene von sexualisierter Gewalt an die Öffentlichkeit, was zu einer weitreichenden Debatte und auch strafrechtlichen Konsequenzen für die teils berühmten Beschuldigten führte. Viele Betroffene sahen sich jedoch mit Vorwürfen konfrontiert, dass die begangenen Delikte zum Teil Jahre zurücklagen und sie sich erst jetzt damit an die Öffentlichkeit wagen würden. Dabei wurde die Glaubwürdigkeit vieler Betroffener in Frage gestellt, da ihnen egoistische Absichten unterstellt wurden. Es entspricht jedoch zweifelsfrei der Realität, dass viele Betroffene von sexualisierter Gewalt – durch Scham und befürchteter Stigmatisierung – ihre Gewalterfahrung nicht mit anderen Menschen teilen und sich keine Unterstützung holen können. Viele Delikte werden zudem in Abhängigkeitsverhältnissen begangen und die betroffene Person befindet sich dadurch in einer vulnerablen Position, was es ihr oft nicht ermöglicht, strafrechtlich gegen die beschuldigte Person vorzugehen. Gelangt die betroffene Person dann doch an die Öffentlichkeit, wird ihr oft eine Mitschuld oder unlautere Motive unterstellt, was als Ausdruck einer gesellschaftlichen Täter Opfer-Umkehr betrachtet werden muss. Die Me-Too Bewegung führte dazu, dass es vielen betroffenen Personen dadurch erst ermöglicht wurde, eine Stimme in der Öffentlichkeit zu erhalten und auf strukturelle Missstände hinzuweisen.
Ein typischer Fall, der in der Frauenberatung bei Gewalt wie auch in der Männerberatung bei Gewalt vorkommt. Egal, welches Geschlecht sich die lesende Person für D oder P vorstellt: es trifft zu!
D ist 42 Jahre alt und seit 5 Jahren mit P verheiratet. Sie wohnen gemeinsam in einem Einfamilienhaus in einer ländlichen Gemeinde. D schildert, wie die Beziehung zu Beginn harmonisch und schön gewesen sei. Seit etwa einem Jahr komme es immer wieder zu Auseinandersetzungen. P sei sehr eifersüchtig und unterstelle D, dass D eine Affäre zu einer Person aus dem Arbeitsumfeld habe. Dies habe dazu geführt, dass D seit einigen Monaten von P kontrolliert werde. D müsse immer zur vereinbarten Zeit zu Hause sein, dürfe sich nicht mehr mit Kolleg*innen treffen und müsse P das Handy abgeben, damit P die Textnachrichten kontrollieren kann. P rufe D mehrmals täglich an, auch wenn D bei der Arbeit ist und möchte von D wissen, mit wem D gesprochen habe. P sei auch schon im Büro aufgetaucht. Langsam würden auch die Mitarbeitenden von D besorgt nachfragen, aber D erzähle allen, dass alles in Ordnung sei. D teilt in der Beratung mit, dass P eine schwierige Kindheit gehabt habe und mit Verlustängsten kämpfe. D habe immer versucht alles richtig zu machen, damit P D vertrauen könne. P finde aber immer wieder Fehler bei D und mache D zum Teil heftige Vorwürfe. D schämt sich sehr und fühlt sich in dieser Situation alleine. D hat sich der Schwester anvertraut, welche D dringend dazu geraten habe, sich bei der Opferhilfe zu melden. Dies habe D sich aber nicht wirklich getraut. D hat noch immer die Hoffnung, dass D und P es wieder gut haben können. Letzten Samstag sei die Situation aber richtig eskaliert. P habe getrunken und D wieder vorgeworfen, dass D ein Verhältnis mit einer anderen Person habe. P habe D angeschrien und sei dann auf D losgegangen, habe D mit Faustschlägen traktiert, Kratzwunden im Gesicht zugefügt und D ein Glas ins Gesicht geworfen, welches an der Stirn eine blutende Rissquetschwunde verursachte. D sei im Schock gewesen, habe sich im Schlafzimmer verbarrikadiert und die Schwester angerufen. Diese habe D geraten umgehend die Polizei zu verständigen. Diese sei kurz später erschienen. D habe befürchtet, dass die Polizei D nicht ernst nehmen würde. Diese hätten D und P einzeln zur Situation befragt. D sei in Tränen ausgebrochen. D habe sich vom Polizisten sehr verstanden gefühlt, ihm erklärt, wie lange D schon unter der Situation leide und es nicht mehr aushalte. Die Polizei habe dann eine polizeiliche Wegweisung von 14 Tagen gegen P verfügt. P musste am gleichen Abend mit einer Reisetasche in Polizeibegleitung das Haus verlassen.
D sitzt im Beratungszimmer. D ist es sichtlich unwohl. Auf der Stirn ist eine genähte Wunde zu sehen. Die Polizei habe D informiert, dass D Anspruch auf Opferhilfe habe. D habe dann nochmals mit der Schwester telefoniert, die einzige Person, welcher D sich immer wieder anvertrauen konnte. Bei der Opferhilfe erfährt D, dass D die Wegweisung verlängern kann. D möchte dies unbedingt. D brauche mehr Zeit, um sich zu überlegen, wie es weitergehen soll. 14 Tage seien für D dafür nicht genug. Die Opferhilfe unterstützt D bei der Verlängerung der Wegweisung und vermittelt juristische Hilfe, um die Verlängerung der Schutzmassnahme beim zuständigen Zivilkreisgericht zu bewirken. So hat D mehr Zeit, sich ausführlich Gedanken über die weiteren Schritte zu machen.
D ist durch die polizeiliche Intervention auch entlastet. Allmählich wird D das Ausmass der erlittenen psychischen Gewalt bewusst. In der Beratung beginnt D zu weinen. D erfährt, dass es viele Menschen gibt, welche von häuslicher Gewalt betroffen sind und wird darin bestärkt, in dieser schwierigen Situation nicht alleine geblieben zu sein. D teilt mit, dass D seit dem Vorfall nicht mehr schlafen und sich auf der Arbeit praktisch nicht mehr konzentrieren könne. Im gemeinsamen Gespräch teilt D mit, dass D gegenüber einer psychotherapeutischen Unterstützung offen sei und es gerne versuchen möchte, um sich in der schwierigen Lebenssituation stärken zu lassen. Die Opferhilfe beider Basel unterstützt D bei der Suche nach einem geeigneten Therapieplatz und sagt D finanzielle Unterstützung in Form einer Kostenbeteiligung an Selbstbehalt und Franchise zu.
D sieht sich mit zahlreichen weiteren Fragestellungen konfrontiert. Wie sieht es mit der Trennung aus? Soll D Strafanzeige einreichen? Wie geht es mit P weiter?…