Wie das Männerbild den Männern schadet

Unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität melden sich viele Gewaltbetroffene aus Scham und Angst selten und nur mit viel Überwindung bei einer Opferberatungsstelle und nehmen Hilfe in Anspruch. In der Beratung mit männlichen Gewaltbetroffenen begegnen uns jedoch oft Aussagen, die einen Rollenkonflikt zeigen. Sie fragen, «kann ich überhaupt ein Opfer werden, Schwäche und Verletzlichkeit zeigen, wenn ich als Mann doch stark und unabhängig sein muss?». Wieso es lohnenswert ist, wenn Männer ihr Selbstverständnis von Männlichkeit kritisch hinterfragen. Und weshalb es auch eine gesellschaftliche Aufgabe ist, Männer dabei zu unterstützen.

 

Es war ein lockeres Gespräch beim Kaffee mit einer befreundeten Lehrerin. Diese teilt mir beiläufig mit, dass sie bei der Pausenaufsicht die prügelnden Buben auf dem Schulhof zum wiederholten Mal gemahnt habe, dies jedoch nichts brachte. «Vielleicht müssen die sich mal auf die Kappe geben, damit es aufhört. So sind Buben vielleicht eben». Diese Aussage beschäftigte mich in den folgenden Tagen. Es scheint, als hätte sich die Gesellschaft damit abgefunden, dass Gewalt zum Mannsein dazugehört.

 

Dabei ist seit paar Jahren zu beobachten, wie sich auch andere Arten von Männlichkeiten etablieren. Männer arbeiten häufiger Teilzeit. 2023 waren es in der Schweiz 19,6% der erwerbstätigen Männer, 1991 waren es erst 7,8% gewesen. Immer mehr Männer entscheiden sich für Arbeitsmodelle, die im Einklang mit Kinderbetreuung und Familie stehen. Dadurch entstehen nicht nur neue Männlichkeitsvorstellungen, sondern es wird auch ein Beitrag zur Gleichstellung geleistet. Die Diversifizierung von Männlichkeiten zeigt sich auch bei Männern, die männeruntypische Berufe ergreifen. Gerade für Buben können sie eine Vorbildfunktion übernehmen.

 

Toxische Männlichkeit

Dieser Wandel zu mehr Vielfalt ändert allerdings nichts daran, dass sich das traditionelle Männerbild hält und sogar an Bedeutung gewinnt. Es gibt viele Gründe, weshalb es zu diesem Rückschritt kommt. Viele Männer sehen ihre Privilegien durch den gesellschaftlichen Wandel bedroht. Einige politische Gruppierungen schüren diese Ängste, indem sie Menschen (z.B. LGBTQI*-Personen) zu Feindbildern stilisieren und erklären, traditionelle Rollenbilder und -verteilung zu verteidigen. Eine Rolle spielen dabei Personen wie der kanadische Psychologe Jordan Peterson, der mit öffentlichkeitswirksamen Botschaften zu toxischer Männlichkeit ein grosses Publikum erreicht.

 

Nach dieser Logik muss ein Mann stark, kräftig und hart sein. Wer Schwäche oder andere unmännliche Gefühle zeigt, ist kein Mann. Zu diesem Stereotyp gehört auch Gewalt. Sie dient dazu, die eigene Position zu festigen und Interessen durchzusetzen. Wird Gewalt in gewissen Teilen der Gesellschaft weiterhin als unveränderbare Eigenschaft des Mannes betrachtet, die nötigenfalls ausgelebt wird, erstaunt es nicht, wenn es zu mehr Gewalttaten kommt.

 

Männer suchen seltener Hilfe

In der Schweiz sind 75% der straffälligen Personen und 56% aller Betroffenen von Straftaten männlichen Geschlechts. Gleichzeitig machen männliche Hilfesuchende bei Opferberatungsstellen nur 30% der Fälle aus. Diese Diskrepanz wirft Fragen auf und zeigt, wie wichtig es ist, Männer als Opfer ernst zu nehmen. Wobei das nicht heisst, dass die Gewalterfahrung von Frauen relativiert wird. Jede Form von Gewalt ist abzulehnen. Und es ist nach den Ursachen zu suchen, um dagegen vorgehen zu können.

 

Wer den unrealistischen Ansprüchen dieser Männlichkeit nicht genügen kann, spürt häufig Ohnmacht und Frustration. Dies kann zu Gewalt gegen andere führen oder auch gegen sich selbst. Problematisch an dieser Form von Männlichkeit ist zudem, dass sie keine Strategien bietet, mit Gefühlen wie Verletzlichkeit, Überforderung oder Angst umzugehen. Und dies kann zu Gewalt gegen andere führen. Oder auch gegen sich selbst.

 

Der Gang zu einer Opferberatungsstelle stellt für viele Männer einen Bruch mit den eigenen strikten Rollenvorstellungen dar. So beobachten wir in den Beratungen, dass Männer mit ihrer Gewalterfahrung hadern. Was sie in dieser Situation brauchen, ist Unterstützung. So können sie festgefahrene Vorstellungen wie Stärke und Autonomie umdeuten und es als Zeichen der Stärke erfahren, wenn sie Hilfe annehmen.

 

Es braucht geschützte Räume

Damit dies gelingt, braucht es zuerst passende Hilfsangebote. Doch leider existieren bis heute praktisch keine geschützten Räume, in welchen Männern die Erwartungen an ihre Rolle kritisch hinterfragen können. Eine Ausnahme bildet das Männerbüro Region Basel. Und die Opferhilfe beider Basel: Hier werden männliche Betroffene von häuslicher und sexualisierter Gewalt seit 2008 in einem eigens dafür geschaffenen Fachbereich beraten. In einem vertraulichen, kostenlosen Gespräch werden individuelle Bedürfnisse und Anliegen herausgearbeitet und gezielte Unterstützung angeboten.

 

Bereits ein einmaliges Gespräch kann entlastend sein. Viele Männer erkennen nach einer Beratung auch die Notwendigkeit psychotherapeutischer Unterstützung und wünschen Therapieempfehlungen. Oder sie fragen nach der Vermittlung juristischer Hilfe, da sich komplexe rechtliche Fragen zeigen. Es sind Männer, die sich aus ihrer Opferrolle und ihrer Ohnmacht befreien und wieder handlungsfähig werden wollen.

 

Unterstützung annehmen

Wie gross die Notlage von Männern ist, sich seine Hilflosigkeit einzugestehen und Unterstützung von aussen anzunehmen, erleben wir in der Beratung immer wieder. Um aus einer schwierigen Situation herauszukommen, sprechen viele Männer von Suizid. Dass dies nicht leere Worte sind, zeigt leider die unverhältnismässig hohe Rate an vollendeten Suiziden bei Männern.

 

Auch in der Gesellschaft herrschen problematische Rollenvorstellungen und Stereotype vor, die gewaltbetroffenen Männer den Zugang zu Hilfsangeboten erschweren. Konkret werden viele Gewalterfahrungen bagatellisiert oder nicht ernst genommen. Es wäre wünschenswert, wenn auch Fachpersonen, die mit gewaltbetroffenen Menschen zu tun haben, teils unbewusste Vorstellungen von Männlichkeit kritisch hinterfragen, damit gewaltbetroffene Männer die notwendige Unterstützung erhalten können.

 

Es muss auch eine gesellschaftliche Aufgabe sein, Buben und Männer zu befähigen, bei eigener Gewaltbetroffenheit Hilfe von Fachpersonen annehmen zu können. Stereotype, wonach Männer belastende Situationen allein bewältigen müssen, dürfen nicht reproduziert werden. Dafür muss die Hilfe jedoch auch vorhanden sein. Viele betroffene Männer stossen bei ihren ersten Versuchen leider auf negative und ablehnende Reaktionen, was die weitere Suche nach Unterstützung massgeblich erschwert.

 

Fazit

Geschlechterrollen sind nicht in Stein gemeisselt. Ermutigen wir Männer dazu, damit sie das anerzogene Rollenverständnis hinterfragen und ablegen. Damit sie selbstbestimmt andere Männlichkeiten entwickeln und ausprobieren können. Verurteilen wir Gewalt – auf den Schulhöfen wie auch an anderen Orten und Bereichen des täglichen Lebens. Geben wir den folgenschweren Irrglauben auf, dass Gewalt ein fester Bestandteil männlicher Sozialisation sein muss. Und schenken wir den gewaltbetroffenen Männern unser Gehör und Vertrauen. Wer es trotz Tabu und Stigma schafft, über Gewalterfahrung zu sprechen, tut einen sehr wichtigen Schritt. Sie verdienen unsere Unterstützung und dürfen in der Bewältigung der Gewalterfahrung und im Umgang mit Rollenkonflikten nicht allein bleiben.

 

 

Quellen:

Teilzeitarbeit – Anteil Teilzeiterwerbstätige, Bundesamt für Statistik

Polizeiliche Kriminalstatistik 2023, Bundesamt für Statistik

Opferhilfestatistik 2022, Bundesamt für Statistik

Spezifische Todesursachen, 2022, Bundesamt für Statistik