Präsent sein und die Vielfalt beachten

Welche Gewalterfahrungen machen Menschen der LGBTIQ-Community? Und welche Schritte braucht es, um Gewalt und Grenzverletzungen zu verhindern? Fachleute einer Fachstelle und von zwei Organisationen ordnen ein.

Sim Eggler, Projektleitung und wissenschaftliche Mitarbeit LGBTIQ, Fachstelle Gleichstellung, Kanton Basel-Stadt

Menschen der LGBTIQ-Community sind mit Grenzverletzungen konfrontiert. Viele Betroffene wenden sich aber nicht an eine Beratungsstelle, sondern behalten diese Erfahrung für sich. Wieso ist dies so?
Sim Eggler: Allgemein suchen viele von Gewalt und Grenzverletzungen Betroffene keine Unterstützung bei Beratungsstellen, weil sie diese Angebote entweder nicht kennen. Oder weil sie andere Hürden haben, zum Beispiel Schamgefühle oder kommunikative Herausforderungen. Bei queeren Menschen können weitere Gründe eine Rolle spielen: So wissen sie nicht, ob die beratende Person über die nötige Sensibilisierung und das Wissen verfügt, um ihre Situation als queere Person zu verstehen. Ob die gewählten Pronomen und Namen akzeptiert und auch angewendet werden. Oder ob sie vielleicht sogar Queerfeindlichkeiten oder stereotype Zuschreibung durch die Beratungsstelle erfahren.

Gibt es noch weitere Gründe?
Für Mitglieder einer Community, die von aussen Diskriminierung und Hass erlebt, kann es schwieriger sein, Gewalt innerhalb der eigenen Community zu benennen und sich Unterstützung zu holen. Die Loyalität und der Schutz gegenüber der eigenen Community, gegenüber anderen queeren Menschen kann hier höher gewichtet werden als das eigene Wohlergehen. Wenn ich befürchten muss, dass die andere queere Person, die ich anzeige oder als gewaltausübend benenne, als Folge davon queerfeindlich behandelt wird, dann hält mich das vielleicht zurück, mir Hilfe zu holen. Das ist nachvollziehbar. Und doch gilt es klar zu sagen, dass jede Person das Recht hat, keine Gewalt zu erfahren und Unterstützung zu bekommen.

Was kann die Opferhilfe beider Basel für gewaltbetroffene Menschen aus der LGBTIQ-Community tun? Welche Aufgaben soll sie übernehmen?
Es ist wichtig, dass die Opferhilfeberatungsstellen für alle Betroffenen von Gewalt, auch für die Community zugänglich sind und spezialisierte Unterstützung und den Zugang zu den Opferhilfe-Leistungen ermöglichen. Dabei kann eine spezialisierte Beratung mit einer Peer-Ebene und einer entsprechenden Kommunikation des Angebots für Betroffene elementar sein, um eine angemessene und eben zugängliche Beratung zu garantieren. Wichtig ist dabei eine vernetzte Zusammenarbeit mit anderen Angeboten für queere Menschen, insbesondere denjenigen, die aus der Community herauskommen und zum Beispiel queere Räume oder andere Arten der Beratung bieten. So kann ein Zusammenspiel entstehen, das möglichst viele gewaltbetroffene LGBTIQ-Personen erreichen und in ihren Bedürfnissen abholen kann. Bei der Gestaltung des Angebots gilt es auch, die Vielfalt der LGBTIQ-Community zu beachten. Da es dies bisher nicht gibt, kann hier eine Pionier*innenrolle übernommen werden.


Milo Käser, Projektleiter der LGBTIQ Helpline

Mit welchen Formen von Gewalt sind Menschen aus der LGBTIQ-Community konfrontiert?
Milo Käser: Ob in der Bahn, auf der Strasse oder online – Beleidigungen, Bedrohungen und körperliche Angriffe gehören für viele LGBTIQ-Personen leider zum Alltag. Beleidigungen machen 70% der bei uns gemeldeten Fälle aus, Bedrohungen und körperliche Angriffe 21%. Trans und nicht binäre Menschen trifft es besonders oft. Und manchmal reicht schon ein Kuss in der Öffentlichkeit, um Hass auszulösen.

Welche Aufgaben übernimmt die LGBTIQ Helpline?
Die Helpline ist ein Anlaufpunkt für queere Menschen, die Hate Crimes und Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität erleben sowie grundsätzliche Fragen zum Leben als queere Person haben. Sie bietet also nicht nur die Möglichkeit, Vorfälle zu melden. Sie unterstützt auch durch Beratung und gibt der queeren Community in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit eine Stimme, um auf unsere Bedürfnisse aufmerksam zu machen.

Wie verbreitet sind Hate Crimes aufgrund eurer Erfahrung in der Region? Wie ist die Entwicklung?
Hate Crimes sind ein wachsendes Problem: Die gemeldeten Fälle haben sich 2023 schweizweit auf 305 verdoppelt. Und wir müssen davon ausgehen, dass es leider immer noch viele Fälle gibt, die im Verborgenen bleiben, da sich viele Betroffene nicht trauen, Vorfälle zu melden, geschweige denn anzuzeigen. Laut nationalen Umfragen gehen wir davon aus, dass fast ein Drittel aller LGBTIQ-Personen in den letzten fünf Jahren ein Hate Crime erlebt hat. Aus der Region gibt es leider keine genaueren Zahlen.

Wie bereitet sich die LGBTIQ-Helpline auf den ESC vor? Mit welchen Situationen rechnet ihr?
Beim ESC erwarten wir nicht nur viel Sichtbarkeit, sondern leider auch Herausforderungen für die Community. Die Helpline ist darauf vorbereitet, Ansprechperson zu sein, falls es zu Beleidigungen oder Diskriminierung kommt. Die Erfahrungen von Grossveranstaltungen zeigen, wie wichtig ein niederschwelliges Unterstützungsangebot ist.

Was kann die Opferhilfe beider Basel für gewaltbetroffene Menschen aus der LGBTIQ-Community tun, am ESC und allgemein?
Die Opferhilfe sollte während des ESC besonders präsent sein, um betroffene Personen schnell und unbürokratisch unterstützen zu können. Beratung, rechtlicher Beistand und psychologische Unterstützung sind essenziell. Wichtig ist, dass Betroffene wissen, wo sie sich hinwenden können – sowohl während des Events als auch danach.


Wir hören zu! LGBTIQ Helpline

Die LGBTIQ Helpline ist die erste Anlaufstelle für alle Anliegen zum Leben als lesbische, schwule, bisexuelle, trans, nicht binäre, intergeschlechtliche oder queere Person. Sie ist eine Peer-to-Peer- Beratungsstelle und die schweizweite Meldestelle für LGBTIQ-feindliche Gewalt. Das Beratungsangebot richtet sich an alle Menschen, die Fragen und Anliegen zum LGBTIQ-Lebensumfeld haben – egal, welche sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität sie selbst haben.

Von Montag bis Freitag, jeweils 19 bis 21 Uhr per Telefon und Chat. Jederzeit per E-Mail.

0800 133 133 | www.lgbtiq-helpline.ch | hello@lgbtiq-helpline.ch

 


Alessandra Widmer, Co-Geschäftsleiterin von der Lesbenorganisation Schweiz LOS

Welche Erfahrungen machen Lesben, Bisexuelle und queere Frauen mit Gewalt? 
Alessandra Widmer: Hate Crimes an Lesben, Bisexuellen und queeren Frauen sind oft eine perfide Mischung aus Sexismus und Queerfeindlichkeit: Wir sind von spezifischen Formen von Gewalt, häufig auch sexualisierter Gewalt, betroffen. 

Täuscht der Eindruck oder werden Schwule, bisexuelle und queere Männer in der Gesellschaft mehr wahrgenommen als Frauen, auch wenn es um Hate Crimes geht? 
Wenn wir an Frauen und Gewalt denken, denken wir oft nicht zuerst an queere, sondern an heterosexuelle Frauen, die in unserer Gesellschaft noch immer überproportional viel Gewalt erfahren. Für uns ist es ein wichtiges Anliegen, sichtbar zu sein. Aber wenn es um Gewaltbetroffenheit geht, ist es uns wichtig, dass alle Betroffenen die nötige Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten. 

Was soll sich aus eurer Sicht ändern?
Es braucht mehr Wissen über die unterschiedlichen Realitäten, in denen gewaltbetroffene Lesben, Bisexuelle und queere Frauen leben, ob sie nun cis, trans oder nicht binär sind. Aber all das nützt nichts, wenn nicht endlich die nötigen Ressourcen in Gewaltprävention gesteckt werden. 

Was kann die Opferhilfe beider Basel für gewaltbetroffene Lesben, Bisexuelle und queere Frauen in der Region tun? 
Wie bei allen anderen Anlaufstellen ist es natürlich wichtig, dass wir auf Berater*innen treffen, die sensibilisiert sind auf unsere Lebensrealitäten. Vielen sind die Angebote und Zuständigkeiten der Opferhilfestellen auch gar nicht bekannt oder sie trauen sich nicht, sich zu melden. 


LOS: Stolz, sichtbar und laut

Die Lesbenorganisation Schweiz LOS ist der nationale Dachverband für Lesben, Bisexuelle und queere Frauen in der Schweiz. Sie kämpft für die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Lesben, Bisexuellen und queeren Frauen.

Insbesondere setzt sich die LOS in folgenden Bereichen ein:

  • gegen Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung sowie allen anderen Formen von Diskriminierung in allen Lebensbereichen
  • für die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Lesben, Bisexuellen und queeren Frauen
  • für die Verbesserung der physischen, psychischen und sozialen Gesundheit von Lesben, Bisexuellen und queeren Frauen
  • für eine starke, vernetzte und vielfältige Community
  • für die Sichtbarkeit von Lesben, Bisexuellen und queeren Frauen in Politik, Kultur, Medien und Alltag.

www.los.ch