Was bringt die Istanbul-Konvention?

Wie weit ist der Kanton Basel-Landschaft in der Umsetzung der Istanbul-Konvention gekommen?

Alexa Ferel: Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt sind eine uralte und immer noch tabuisierte Form von geschlechtsspezifischem Machtmissbrauch. Dass Gewalt gegen Frauen in der Paarbeziehung auch in der Schweiz ein gravierendes Problem ist, zeigte eine erste schweizweite Dunkelfeldstudie bereits Ende der 1990er-Jahre (Gillioz Lucienne et.al 1997). Häusliche Gewalt stoppen, Opfer schützen und Tatpersonen belangen, sind seither die Ziele der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt BL. Und unsere Arbeitsgruppe gegen Häusliche Gewalt, eine regierungsrätliche Kommission, sorgt seit über 20 Jahren als «Runder Tisch» für die so relevante Vernetzung. Auf kantonaler und nationaler Ebene traten in den letzten Jahren wichtige rechtliche Grundlagen zur Verbesserung des Opferschutzes in Kraft. Die Opferhilfe und das Frauenhaus der Basler Kantone waren und sind unverzichtbare Institutionen für Gewaltbetroffene. Und auch die Lernprogramme für gewaltausübende Personen gehören seit Jahren zwingend zum Opferschutz dazu.

Wir sind also nicht erst seit Inkrafttreten der Istanbul-Konvention (IK) daran, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu bekämpfen. Aber die IK ist ein hervorragendes zusätzliches Instrument, um die Prävention, den Opferschutz und die Strafverfolgung noch konsequenter und vernetzter voranzutreiben – eine Chance, die wir unbedingt nutzen wollen und müssen.

Welche konkreten Massnahmen wurden im Baselland bereits ergriffen?

Die Umsetzung der IK wurde ab dem Jahr 2019 mit einer ersten Bestandsaufnahme an die Hand genommen. Der Kanton Basel-Landschaft verfügt grundsätzlich über gute Interventionsstrukturen und Interventionsinstrumente zur Prävention von häuslicher Gewalt und zur Bekämpfung ihrer Folgen. In verschiedenen Punkten der IK zeigte sich aber auch Handlungsbedarf, weshalb eine direktionsübergreifende Projektgruppe eingesetzt wurde. Die Projektgruppe legte für die erste Phase Massnahmen in vier Schwerpunkten fest. Auf dieser Grundlage beschloss der Regierungsrat Basel-Landschaft 2020 die Umsetzung. Rund zwei Jahre später zeigt der Rechenschaftsbericht über die Umsetzung der Massnahmen, erste Phase, 2022: Die Schutzplätze für gewaltbetroffene Frauen und Kinder wurden erhöht, gemeinsam mit dem Kanton Basel-Stadt. Mit neuen Angeboten für gewaltausübende Fremdsprachige und für gewaltausübende Frauen wurde die Lücke in der Arbeit mit Tatpersonen bei Gewalt in der Paarbeziehung geschlossen.  Zur Sensibilisierung für die Situation der betroffenen Kinder als Zeugen häuslicher Gewalt wurden wichtige Erkenntnisse gewonnen und Fachpersonen als Handreichung zur Verfügung gestellt. Zudem wurde die schulische Prävention zu Gleichstellung, gewaltfreier Konfliktlösung und geschlechtsspezifischer Gewalt intensiviert. Diese Schwerpunkte werden durch die zuständigen Projektmitglieder im Austausch mit dem Netzwerk als «work in progress» weiterentwickelt.

Für die nächste Phase zur Umsetzung der IK legen wir den Fokus jetzt auf die Roadmap Häusliche Gewalt. Darin vereinbarten Bund und Kantone Ende April 2021 in zehn Handlungsfeldern ganz konkrete Massnahmen zur nachhaltigen Verbesserung des Opferschutzes.  

Welche Fortschritte sind bei der Umsetzung in der Schweiz erzielt worden?

Auf nationaler Ebene hat der Bundesrat im Juli 2022 den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention verabschiedet. Dank gebündelten und koordinierten Massnahmen sollen bis Mitte 2026 substantielle Fortschritte bei der Sensibilisierung der Bevölkerung und bei der Aus- und Weiterbildung zuständiger Bereiche erzielt werden. Ganz wichtig ist, dass der Aktionsplan ausserdem einen speziellen Fokus auf die Prävention und Bekämpfung von sexualisierter Gewalt legt.  

Ein Ziel der Konvention ist die verbesserte Koordination und Vernetzung der betroffenen Stellen. Sind hier bereits Fortschritte erzielt worden?

Generell hat die IK bei allen betroffenen Stellen mit Sicherheit einen grossen Effekt. Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt sind viel stärker ins Bewusstsein der Gesellschaft gerückt und auch verstärkt auf der politischen Agenda. Diese Gewichtung unterstützt unsere Vernetzungsarbeit. Während der Covid-19-Pandemie zeigte sich, wie wichtig funktionierende Vernetzungsgremien sind: Während der Krisenzeit konnten wir mit unserer «Corona-Gruppe» zwischen den Schlüsselstellen im Opferschutz rasch und unkompliziert regelmässige Online-Besprechungen durchführen. Dadurch waren Austausch und Vernetzung sichergestellt. Das ist ein Beispiel gelebter Vernetzung, die den Gewaltbetroffenen direkt zugutekommt.

Weshalb ist Vernetzung so wichtig?

Auf der operativen Ebene ist sowohl die Arbeit mit Tatpersonen als auch mit Gewaltbetroffenen ohne Vernetzung undenkbar – natürlich immer im Einverständnis mit den Betroffenen beziehungsweise im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen. Insbesondere im Schutzmanagement, das wir im Auftrag des kantonalen Bedrohungsmanagements bei Gewalt in Paarbeziehungen übernehmen, ist die Vernetzung essenziell: mit den Schutzunterkünften, mit der Opferhilfe und auch mit anderen involvierten Stellen.

Wo besteht noch grösster Handlungsbedarf? Welche Hürden gilt es zu überwinden?

Deutliche Hinweise zum Handlungsbedarf sind in den Vorschlägen des internationalen Expertinnen- und Expertengremiums des Europarats (GREVIO) zu finden. Dieses hat die Umsetzung der IK in der Schweiz letztes Jahr geprüft und Empfehlungen an die Schweiz gerichtet. Der Bundesrat publizierte im November 2022 dazu einen Kommentar. Der Schweiz ist u.a. gefordert, geschlechtsspezifische Gewalt besser zu erkennen, zu benennen und Massnahmen davon abzuleiten.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir wissen, dass versuchte oder vollendete Femizide im Kontext häuslicher Gewalt fast immer in Trennungsphasen oder im Zusammenhang mit einem Trennungswunsch der Partnerin passieren. Als Tatmotiv wird oft heftige Eifersucht genannt. Solche bagatellisierenden Begründungen müssen wir hinterfragen. Denn hier geht es um einen verheerenden Besitzanspruch, um destruktive Kontrolle und um die Unterdrückung, im schlimmsten Fall um die Tötung einer Partnerin, allein weil diese sich trennen wollte. Strukturell müssen wir uns also für noch mehr Gleichstellung einsetzen, indem wir zum Beispiel gewaltfördernden Rollenverständnissen entgegenwirken. Operativ müssen wir häusliche Gewalt – auch psychische Formen – vor, während und auch nach einer Trennung wirklich immer gewichten und Schutzmassnahmen zur Verfügung stellen. Das kantonale Bedrohungsmanagement kann in solchen Fällen einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären und interinstitutionellen Vernetzung und Zusammenarbeit leisten.

Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten für Verbesserungen?

Handlungsbedarf im Sinne von Weiterentwicklung besteht auf allen Ebenen, und sehr viele Massnahmen sind in den strategischen Plänen von Bund und Kantonen auch bereits zu finden. Die Umsetzung von Massnahmen liegt in der Regel in der Kompetenz der Kantone. Damit sich der Föderalismus nicht als unüberwindbare Hürde erweist, ist eine gute interkantonale Kooperation gefragt – Vernetzung also nicht nur innerhalb der Kantone, sondern auch unter den Kantonen.