Jahr für Jahr steigen die Fallzahlen der Opferhilfe beider Basel. Jeder handelt vom Leid eines Menschen. Anonymisierte Schilderungen zeigen schonungslos auf, in welcher Form Gewalt in unserer Gesellschaft ausgeübt wird.
Jeder Fall ein Schicksal
Jahr für Jahr steigen die Fallzahlen der Opferhilfe beider Basel. Jeder handelt vom Leid eines Menschen. Anonymisierte Schilderungen zeigen schonungslos auf, in welcher Form Gewalt in unserer Gesellschaft ausgeübt wird.
Pro Arbeitstag sind letztes Jahr zwölf neue Dossiers von gewaltbetroffenen Menschen bei uns eingetroffen – 2020 waren es erst sieben. Der Bedarf an professioneller Unterstützung in schwierigsten Situationen wächst stark, wie der aktuelle Jahresbericht zeigt.
Diese Zahlen sollen nicht abstrakt bleiben. Anonymisierte Fallgeschichten können aufzeigen, wie Gewalt ausgeübt wird. Dabei werden keine vertraulichen Informationen verwendet. Eine Warnung: Einige der nachfolgenden Beispiele können verstören.
Häusliche und sexualisierte Gewalt an Frauen
Mit Abstand am stärksten von Gewalt betroffen sind Frauen: Bei sechs der zwölf neuen Fälle, die jeden Tag von unserem Team eröffnet werden, sind sie Opfer von häuslicher und sexualisierter Gewalt geworden. Das reicht von Menschenhandel über sexuelle Belästigung an einem Festival bis zu Vergewaltigung und einer Todesdrohung des Ex-Partners.
Hier eine gekürzte und zum Schutz der Betroffenen verfremdete Wiedergabe eines Gesprächs mit einer Frau, die über ihren gewalttätigen Mann spricht:
«Ich bin seit 1995 mit ihm verheiratet und habe mit ihm zwei mittlerweile erwachsene Kinder. Ich lebe seit 30 Jahren komplett isoliert: Ich darf das Haus nicht alleine verlassen, ich darf keine sozialen Kontakte pflegen. Ich darf, wenn ich mit ihm draussen bin, keinem Menschen in der Öffentlichkeit in die Augen schauen oder ansprechen. Auch zu Hause werde ich permanent mit Kameras in jedem Zimmer überwacht. Heute hat mich ein Kind zur Opferhilfe begleitet. Das Kind wartet unten und will nicht darüber reden.
Der Mann ist extrem eifersüchtig und hat mir mehrfach mit dem Tode gedroht. Er besitzt Waffen und Munition. Wenn er am Abend ins Bett geht, nimmt er immer ein spitzes Messer mit ins Ehebett. Er ist arbeitslos und hat ein Alkohol- und Drogenproblem. Ich habe keine Kraft, mich zu wehren oder ihn zu verlassen. Ich habe keine Arbeit, durfte nie etwas machen. Ich bin alleine verloren. Ich akzeptiere mein Schicksal. Ich mache mir so Sorgen wegen meinen erwachsenen Kindern. Es geht ihnen so schlecht.»
Gewalt im öffentlichen Raum
Bei drei der zwölf neuen Dossiers, die unsere Mitarbeitenden jeden Tag eröffnen, geht es um Straftaten im öffentlichen Raum und Verkehrsunfälle. Zum Beispiel um Streit zwischen Nachbarn oder Auseinandersetzungen mit Stichwaffen. Hier die Geschichte einer Velofahrerin:
«Ich stand mit meinem Velo an einem Fussgängerstreifen, um einen Fussgänger passieren zu lassen. Von hinten kam ein Auto und fuhr voll in mich hinein. Ich stürzte und verletzte mich. Herbeieilende Leute halfen mir wieder auf die Beine. Wir haben keine Polizei gerufen, wir haben einfach die Personalien und Kontaktdaten ausgetauscht.
Mir ging es danach immer schlechter und ich fuhr mit dem Taxi in den Notfall. Wie sich herausstellte, waren die Verletzungen schwerwiegender als zuerst angenommen. Ich erlitt einen Kreuzbeinbruch, einen angebrochenen Unterschenkel, ein gerissenes Kreuzband am Knie, und nun wird auch noch ein möglicher Bandscheibenvorfall abgeklärt. Ich war mehrere Wochen 100% arbeitsunfähig und bin auch jetzt noch 50% arbeitsunfähig.
Einen Strafantrag habe ich nicht gestellt und ich habe auch keine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen.»
Kinder und Jugendliche als Opfer
Zweimal pro Tag handelt es sich bei neuen Fällen um Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt werden. Das folgende Beispiel zeigt einen besonders gravierenden Fall:
Eine Staatsanwältin meldet sich telefonisch bei der Opferhilfe. Sie berichtet, dass sie einen Fall übermittelt bekommen habe, bei denen es um Videos und Fotos gehe. Sie zeigen sexuelle Handlungen mit einem zweieinhalbjährigen Mädchen.
Inzwischen sind der Beschuldigte und das Mädchen, das Opfer wurde, den Behörden bekannt. Das Mädchen ist heute 8-jährig, und die Fachleute gehen davon aus, dass es sich nicht an die Vorfälle erinnern kann. Zudem wird vermutet, dass die Eltern nichts davon wissen und folglich überfordert sein werden, wenn sie mit dem Fall konfrontiert werden.
Die Staatsanwältin möchte die Einschätzung einer Beraterin der Opferhilfe, ob es sinnvoll sei, das Mädchen zu informieren und befragen. Ebenfalls würde die Staatsanwältin es begrüssen, wenn beim Gespräch mit den ahnungslosen Eltern eine Vertrauensperson der Opferhilfe anwesend sein könnte.
Gewaltbetroffene Männer
Einer von zwölf neuen Fällen betrifft Männer, die häuslicher und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Hier die Zusammenfassung eines Gesprächs eines Pflegefachmanns mit einem unserer Berater:
Der Klient teilt mit, dass er dipl. Pflegefachmann sei und zehn Jahre Arbeitserfahrung in der Pflege habe. Er arbeite zurzeit in einem Pflegeheim als stellvertretender Stationsleiter. Im Juli habe dort eine 17-jährige Praktikantin auf einer anderen Station zu arbeiten begonnen. Sie hätten miteinander Zigarettenpausen gemacht. Er habe jedoch schnell bemerkt, dass sie ihn «anmache», also nach seinem Beziehungsleben frage und ihm Komplimente für sein Aussehen mache. Er habe diese Avancen jedoch ignoriert.
Im September hätten die beiden wieder zusammen in der Pause Zigaretten geraucht. Sie habe ihn unter dem Vorwand in ein Personal-WC gelockt, dort nachzuschauen, ob etwas defekt sei. Im Personal-WC habe sie ihn an die Wand gestossen, seine Hose aufgeknöpft, ihm an den Penis gefasst und versucht, ihn zu masturbieren. Er sei zuerst erstarrt, nach etwa 15 Sekunden habe er aber ihre Hand weggeschlagen und ihr mitgeteilt, dass er dies melden werde und ihr Verhalten falsch sei.
Anscheinend sei die Praktikantin zuvor wegen schlechter Leistung im Betrieb aufgefallen. Seine Vorgesetzte sei an diesem Abend nicht mehr im Haus gewesen. Die Praktikantin sei jedoch direkt zur Polizei gegangen und habe ihn wegen sexueller Nötigung angezeigt. Daraufhin kam er in Untersuchungshaft und es habe eine Hausdurchsuchung gegeben. Nun laufe ein Strafverfahren gegen ihn. Er teilt mit, dass er sehr besorgt über seine Zukunft sei und Unterstützung brauche.
Entscheidende Unterstützung
Diese Fälle geben Einblick in den Alltag einer gesetzlichen Beratungsstelle. Vor allem aber zeigen sie auf, in welcher Form und in welchem Ausmass Gewalt in unserer Gesellschaft präsent ist. Und sie machen deutlich, wie wichtig alle Partnerorganisationen bei der Unterstützung von Gewaltbetroffenen sind, auch in der Strafverfolgung und dabei, dass ausreichend Schutzunterkünfte und Therapieplätze zur Verfügung stehen.
Opferhilfe beider Basel
Steinengraben 5
CH-4051 Basel