Eine grosse Chance, damit gewaltbetroffene Menschen mit Behinderungen ernst genommen werden

Die Opferhilfe beider Basel will Menschen mit Behinderungen besser vor Gewalt schützen. Seit Anfang August verstärkt Ruth Bonhôte deshalb das Team. Im Interview erklärt sie, worin ihre konkrete Arbeit für Menschen mit Behinderung besteht und welche Chancen das bietet.

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 wurden bei der Opferhilfe beider Basel über 1500 neue Dossiers respektive Fälle eröffnet und Klientinnen und Klienten beraten. Dies entspricht einem Wachstum von gut 15 % gegenüber dem Vorjahr. Beratungen für Menschen mit Behinderung bleiben jedoch recht selten. Und so ist es für die Beratenden immer etwas Spezielles, wenn sie mit einer Dolmetschenden der Gebärdensprache zusammenarbeiten oder in vereinfachter Sprache erklären, was eine forensische Beweissicherung oder Konstituierung der Privatklägerschaft bedeutet oder wie ein Strafverfahren abläuft. Die rechtlichen Aspekte der Opferhilfe sind sehr komplex, entsprechend anspruchsvoll ist es, sie gut verständlich zu vermitteln.

Der Austausch mit anderen Institutionen und auch Berichte zeigen: Das Thema Gewalt an behinderten Menschen getraut sich niemand so richtig anzugehen, nicht nur auf Seite der Opferberatungsstellen. Viele warten, bis andere den ersten Schritt machen und aktiv werden.

Wir von der Opferhilfe beider Basel machen nun einen Schritt in diese Richtung. Wir wissen, dass sehr viele weitere folgen werden. Und wenn es wirklich ein Schwerpunktthema der Kantone ist – wie häufig betont wird –, dann müssen sie sich dazu bekennen und die erforderlichen finanziellen Ressourcen für Personal und Massnahmen zur Verfügung stellen.

Um das Angebot auf Menschen mit Behinderungen auszurichten, sind zahlreiche Anpassungen erforderlich: Das Informationsmaterial und die Website müssen neu konzipiert und in Leichter Sprache formuliert werden. Und es ist erforderlich, dass die Beratenden Menschen mit Behinderungen sowie die Mitarbeitenden in Institutionen und Ämtern aufsuchen, informieren und für das Thema sensibilisieren.

Um dies zu realisieren, verstärkt sich die Opferhilfe beider Basel personell. Am 1. August 2024 hat Ruth Bonhôte ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist für Themen rund um Gewalt gegen Menschen mit Behinderung verantwortlich, neben ihrer Beratungsarbeit im Kinder- und Jugendbereich.

 

Ruth, du bist ausgebildete Sozialarbeiterin, verfügst über einen Masterabschluss in Sozialer Arbeit und hast mehrere Jahre die interne Meldestelle einer Institution aus dem Behindertenbereich geleitet. Worum ging es in deiner Arbeit?
Ruth Bonhôte: Im Zentrum meines Handelns als Präventions- und Meldestelle stand das Ziel, die Mitarbeitenden darin zu stärken, ihren Umgang mit Gewalt und Grenzverletzungen zu reflektieren. Dazu gehörte Präventionsarbeit in Form von Schulungen. Hauptsächlich aber habe ich die Mitarbeitenden und auch Klientinnen und Klienten der Institution zu ihren Erlebnissen und Fragen rund um Gewalt und Grenzverletzungen beraten. Dies umfasste unter anderem die Themen Nähe und Distanz, freiheitseinschränkende Massnahmen und Nachsorge. Ich habe ebenso ganze Teams beraten im Umgang mit Klientinnen und Klienten, die fremd- oder selbstverletzendes Verhalten zeigten. Darüber hinaus gehörte es zu meinen Aufgaben, die konzeptionellen Grundlagen für den internen Umgang mit Gewalt und Grenzverletzungen zu erarbeiten und das Bewusstsein dafür hochzuhalten.

Warst du auch mit Fällen von sexualisierter Gewalt konfrontiert?
Die fachliche Begleitung von Verdachtsfällen war ebenfalls Teil meiner Arbeit. Die Geschäftsleitung und ich haben in enger Zusammenarbeit Verdachtsfälle eingeordnet und notwendige Interventionsschritte eingeleitet. In solchen Fällen war mir die Opferhilfe beider Basel als aussenstehende Fachstelle stets eine grosse Unterstützung.

Wie erklärst du dir, dass nur wenig Menschen mit Behinderung die Angebote von Opferhilfestellen in Anspruch nehmen?
Je nach Art und Schwere der Beeinträchtigung fehlt Menschen mit Behinderungen das Wissen, was ihre Rechte sind, was eine gesunde Sexualität ist und was hingegen Gewalt, wenn die sexuelle Integrität verletzt oder Macht missbraucht wird. Damit meine ich nicht nur kognitives Wissen, sondern verinnerlichtes Bewusstsein und Handlungskompetenzen. Das führt dazu, dass viele Menschen mit Behinderung nicht erkennen, dass sie Gewalt erleben und Anrecht auf Hilfe hätten. In einem zweiten Schritt kann es für Menschen mit Behinderung eine grosse Hürde bedeuten, passende Hilfsangebote zu finden und selbstständig eine Beratungsstelle aufzusuchen. Weiter denke ich, dass das Bewusstsein für Gewalt an Menschen mit Behinderung bei den begleitenden Fachpersonen, Beiständinnen und Beiständen sowie Angehörigen weiter zunehmen muss, damit diese stellvertretend für die Menschen mit Behinderung an Opferhilfestellen gelangen.

Wie kannst du deine Erfahrung im Umfang mit Menschen mit Behinderung bei der Opferhilfe beider Basel einbringen? Worin bestehen konkret deine Aufgaben?
Ein reicher Schatz, den ich mitbringe, ist die grosse Vernetzung zum Behindertenbereich in Basel-Stadt und Basel-Landschaft. Ich kenne sowohl die ambulante als auch stationäre Behindertenhilfe gut und kann die verschiedenen Perspektiven einnehmen, gerade in Bezug auf die Themen Gewalt und Grenzverletzungen. Dies ermöglicht mir innerhalb der Opferhilfestelle, meine Kolleginnen und Kollegen aller Fachbereiche zu coachen, wenn sie Menschen mit Behinderung und deren Bezugssysteme beraten. Ich möchte sie mit meinem Verständnis für die verschiedenen Kontexte der Behindertenhilfe und mit meiner Erfahrung in der Kommunikation mit Menschen mit Behinderung darin unterstützen, gute und sichere Beratungen anbieten zu können. Darüber hinaus bin ich bei der Opferhilfe beider Basel Ansprechperson für Mitarbeitende aus dem Behindertenbereich bei opferrelevanten Fragen und Problemstellungen, die sich in ihrem Berufsalltag ergeben.

Welche Chancen siehst du?
Durch die Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen bei der Opferhilfe beider Basel erkenne ich die grosse Chance, dass unser Team den gewaltbetroffenen Menschen mit Behinderung die Erfahrung bieten kann, ernst genommen und verstanden zu werden und mehr Lebensqualität zu erfahren. Wir können Kommunikationshilfen nutzen, um die betroffenen Menschen in den Grundzügen zu ihren Rechten, Unterstützungsmöglichkeiten und ihren Bedürfnissen in Bezug auf den Umgang mit der Gewalterfahrung beraten zu können. Weiter können wir für die Menschen mit Behinderung, die wir beraten, Übersetzungshilfe im Helfersystem leisten. Wenn wir es schaffen, dass sich Menschen mit Behinderung an den zentralen Stellen im Hilfeprozess gehört und verstanden fühlen, dann kann dieser Prozess für sie bewältigbar werden.

Wie sieht es mit der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen aus?
Auf übergeordneter Ebene sehe ich die Chance, dass die Opferhilfe beider Basel in Zusammenarbeit mit ihren Partnerinnen und Partner im Netzwerk gemeinsame Stossrichtungen vorgeben kann, damit Menschen mit Behinderung ihr Recht auf Hilfe im Umgang mit der erlebten Gewalt wahrnehmen können. Konkrete Ideen für eine solche Zusammenarbeit hat Necla Parlak, Geschäftsleiterin von insieme Basel im Austausch bereits genannt: eine aktive Rolle der Opferhilfe in Präventionskonzepten von Institutionen, gemeinsame Weiterbildungen für Mitarbeitende und Klientinnen und Klienten, in Zusammenarbeit mit Peers. Oder auch Besuche der Opferhilfe beider Basel in Wohngruppen. Ich denke, es fehlt uns allen nicht an Ideen. Wenn wir es im Netzwerk schaffen, unsere vielen Ideen partnerschaftlich umzusetzen, kann daraus wirklich viel Positives für gewaltbetroffene Menschen mit Behinderung entstehen. Stellvertretend für die Opferhilfe beider Basel sage ich, dass wir bereit sind, diese Schritte zu gehen.