«Die Hürde kann gross sein, Verdachtsfälle zu melden»

Was tun die Kantone dafür, um Menschen mit Behinderungen vor Gewalt zu schützen? Und was braucht es, damit mehr von Gewalt Betroffenen die Unterstützung suchen, die ihnen zusteht. Drei Fachleute aus den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft nehmen Stellung.

Amt für Beistandschaften und Erwachsenenschutz Basel-Stadt

Andrea Schmid arbeitet seit dem 1. Juni 2024 als juristische Mitarbeiterin bei der Abteilung Gewaltschutz und Opferhilfe des Kantons Basel-Stadt. Sie ist studierte Juristin und Grundschullehrerin. Zuvor war sie die letzten Jahre beim Amt für Beistandschaften und Erwachsenenschutz Basel-Stadt tätig.

Welchen Bezug hatte Ihre Arbeit beim Amt für Beistandschaften und Erwachsenenschutz zu Menschen mit Behinderungen?
Andrea Schmid: Als Berufsbeiständin und Juristin habe ich unter anderem Klientinnen und Klienten mit psychischen, physischen und kognitiven Beeinträchtigungen begleitet und vertreten. Meine Unterstützung bezog sich auf lebenspraktische Elemente, zum Beispiel eine geeignete Wohnlösung zu finden oder den Kontakt mit Angehörigen zu pflegen. Teil meiner Aufgabe war auch die Vertretung in rechtlicher Hinsicht. Dazu gehört das Einlegen von Rechtsmitteln, um Entscheide von Gerichten oder anderen Behörden überprüfen zu lassen, etwa bei sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen oder um jemanden in Erbangelegenheiten zu vertreten. Zudem wurde ich regelmässig für Inputreferate eingeladen, auch in Einrichtungen, wo junge Erwachsene mit Beeinträchtigungen eine Ausbildung absolvieren können. Zweck dieses Austausches war es, die Chancen einer Beistandschaft aufzuzeigen und den Unsicherheiten der Eltern und der Betroffenen zu begegnen.

Wie waren Sie mit dem Thema Gewalt gegen Menschen mit Beeinträchtigungen konfrontiert?
Der Kontakt mit dem Thema ist in diesem Berufsfeld vielfältig. Eine Beistandschaft ist eine einschneidende Massnahme und wird in der Regel nur dann errichtet, wenn es keine Alternative gibt, die Rechte der betroffenen Person zu wahren. Als Berufsbeiständin oder -beistand haben wir oft die Fälle erhalten, in denen schon sehr viel schiefgelaufen war und das private Umfeld die Situation nicht mehr im Interesse der betroffenen Person auffangen konnte. Fälle, in denen die Person bereits seit langer Zeit körperlicher oder psychischer Gewalt ausgesetzt worden ist, sind leider nicht selten.

Können Sie Beispiele nennen?
Das reicht von Überbehütung und «Verkindlichung» der Betroffenen über Missbrauch der Renten bis hin zu schwerer psychischer und körperlicher Misshandlung. Die Tatorte sind divers und umfassen das familiäre Umfeld, Institutionen und auch Freizeitorte. Mit einem strafrechtlich relevanten Übergriff hatte ich etwa in einem Fall zu tun, in welchem die Betroffene von einem Mitbewohner ihm Heim belästigt wurde und das Heim das Vorgehen des Täters erst nach langer Zeit identifizierte und meldete.

Wie erklären Sie sich, dass es so wenig Opfermeldungen bei den Opferberatungsstellen gibt?
Es gibt ein grosses Dunkelfeld. Je nach Schwere der Beeinträchtigung und Art des Missbrauchs können die Betroffenen die Geschehnisse weder einordnen noch Hilfe holen. Hinzu kommt, dass sich Betroffene oft in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden. Wenn die Gewalt vom Familien- oder Betreuungssystem ausgeht, ist es einerseits für das Opfer schwierig, gegen die Bezugspersonen vorzugehen. Andererseits braucht es oft sehr lange, bis diese Missstände von aussen wahrgenommen werden, da sie im verborgenen, vermeintlich geschützten Rahmen erfolgen. Wenn ein Gewaltverdacht gegen das Bezugssystem besteht, ist ausserdem die Hürde gross, diesen Verdacht zu melden. Es bedeutet einen Eingriff in einen sehr intimen und persönlichen Bereich und kann auch dann, wenn sich der Verdacht nicht erhärtet, eine grosse Unruhe ins System bringen.

Wo würden Sie ansetzen, um das zu ändern?
Es braucht gezielte Schulungen und Sensibilisierungskampagnen von Personen, die in Institutionen und im Gesundheitsbereich arbeiten. Dazu gehören Personal in Heimen, an Ausbildungsstätten und in den psychiatrischen Kliniken, Beiständinnen und Beistände, Betreuerinnen und Betreuer sowie Ärztinnen und Ärzte. Durch eine gezielte Sensibilisierung könnten Missbrauchsfälle idealerweise besser erkannt werden. Zusätzlich wäre eine spezialisierte Beratungsstelle hilfreich, die bei Verdachtsfällen beigezogen werden kann und bei der Einordnung des Verhaltens der betroffenen Person oder der Situation unterstützt.


Abteilung Gleichstellung und Diversität Basel-Stadt

Evelyne Sturm leitet die Abteilung Gleichstellung und Diversität, zu der auch die Fachstelle Rechte von Menschen mit Behinderungen gehört. Vor kurzem wurde der Gleichstellungsplan 2024-2027 publiziert. Im Handlungsfeld «Gewalt und Sicherheit» wird folgende Massnahme genannt: «Thematisierung der Situation von Menschen mit Behinderungen im Kontext von Häuslicher Gewalt und sexualisierter Gewalt und Formulierung von Handlungsempfehlungen.»

Sie waren bei der Erarbeitung des Gleichstellungsplans mit zahlreichen Anspruchsgruppen im Kontakt. Welche Aussagen führten dazu, dass die Massnahme zur Situation von Menschen mit Behinderungen formuliert wurde?
Für uns war bei der Erarbeitung des Gleichstellungsplans wichtig, die spezifischen Anliegen verschiedener Gruppen sowie Mehrfachdiskriminierung in allen Handlungsfeldern des Plans zu berücksichtigen. Daher haben wir bei der Situationsanalyse von Anfang an ein besonderes Augenmerk auf intersektionale Überschneidungen gelegt. Damit ist gemeint, dass Menschen gleichzeitig aufgrund von verschiedenen Merkmalen diskriminiert werden und diese Formen der Diskriminierung zusammenwirken können. Verschiedene Studien zeigen deutlich auf, dass Gewalt an Menschen mit Behinderungen ein Gleichstellungsthema ist, das auch aus Genderperspektive betrachtet werden muss. In der Erarbeitung des Plans wurde hier ein Bedarf erkannt und eine entsprechende Massnahme aufgenommen.

Was wird mit dieser Massnahme bezweckt? Welche konkreten Schritte sind erforderlich?
Es geht darum, die Thematik in bestehende Gefässe im Bereich der Häuslichen Gewalt und sexualisierten Gewalt zu integrieren. In einem ersten Schritt werden wir die aktuellen Forschungsergebnisse und Empfehlungen thematisieren. Auf dieser Basis sollen Handlungsempfehlungen für Massnahmen in verschiedenen Bereichen abgeleitet werden. Im Kanton Basel-Stadt arbeiten wir dazu erfolgreich mit Runden Tischen, an denen Delegierte aus verschiedenen Fachbereichen der Verwaltung und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten.

Amt für Kind, Jugend und Behindertenangebote Basel-Landschaft

Sandra Janett ist in der Abteilung Behindertenangebote tätig, im Bereich Leistungen und Aufsicht.

Sie erteilen Bewilligungen an Institutionen für Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen. Mit welchen Auflagen versuchen Sie sicherzustellen, dass Gewalt an behinderten oder abhängigen Personen verhindert wird?
Sandra Janett: Die Leistungserbringenden der Behindertenhilfe im Kanton Basel-Landschaft sind unter anderem gemäss «Reglement zur Gewaltprävention mit Schwerpunkt sexuelle Gewalt» verpflichtet, ein einrichtungsspezifisches Konzept für die Prävention von und das Vorgehen bei (sexueller) Gewalt zu erarbeiten. Die Umsetzung dieses Konzepts wird im Rahmen der regelmässig stattfindenden Aufsichtsbesuche durch das Amt für Kind, Jugend und Behindertenangebote (AKJB) geprüft.

Welche qualitativen Anforderungen gibt es von Ihrer Seite bezüglich internen Meldestellen und Schutzkonzepten?
Die qualitativen Mindestanforderungen an das einrichtungsspezifische Konzept und die Institutionen sind umfangreich. Eine detaillierte Auflistung der Anforderungen sind im «Reglement zur Gewaltprävention» festgehalten. Bei der Ernennung von internen Ansprechpersonen ist gemäss Reglement darauf zu achten, dass es sich hierbei jeweils um eine Frau und einen Mann handelt. Leistungserbringende der Behindertenhilfe im Kanton BL sind zudem verpflichtet, eine von der operativen Leitung und der Trägerschaft unabhängige Anlaufstelle zu bezeichnen, an die sich eine Person mit Behinderung oder ihre gesetzliche Vertretung wenden kann. Ansprechpersonen einer solchen Anlaufstelle können entweder einrichtungsübergreifend von den Trägerschaften ernannt werden, vor allem bei Trägerschaften mit mehreren Einrichtungen. Oder sie werden in Kooperation mit der Ombudsstelle der IG PRIKOP (Private Koordination Psychiatrie) und des Verbands Soziale Unternehmen beider Basel (SUbB) organisiert. Auch die Anlaufstellen für Beanstandungen achten darauf, als Ansprechpersonen eine Frau und einen Mann zu bezeichnen.

Wie erklären Sie sich, dass sich wenig Menschen mit Behinderung, die von Gewalt betroffen sind, an eine Opferberatungsstelle wenden?
Um das besser zu verstehen, empfiehlt es sich, direkt mit den Betroffenen in Kontakt zu treten, um mehr über die Gründe zu erfahren. Zudem gibt es mehrere Anlauf- und Ansprechstellen, an die sich betroffene Menschen wenden können.  

Was können Opferhilfestellen tun, damit sie vermehrt von Betroffenen angesprochen werden können?
Eine Möglichkeit könnte sein, dass die Opferhilfestellen die Informationen über ihre Leistungen verstärken. Informationen sollten barrierefrei, in einfacher und leichter Sprache zugänglich sein. Auch «Erklärvideos» fördern das Verstehen. Zur Stärkung der Information und des Verständnisses könnte eine Zusammenarbeit der Opferhilfestelle mit den SUbB und Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderungen geeignet sein.